Ukraine-Konflikt und Rußlandpolitik

.Probleme der Russlandpolitik als Friedenspolitik
Kritische Anmerkungen zur Russland-Ukraine-Diskussion 

Von Herwig Roggemann 

1. Treffende und unzutreffende Thesen

„Wir sind in der gefährlichsten Situation, die wir seit Ende des Kalten Krieges erlebt haben“, warnt Johann Wadephul im Berliner Tagesspiegel. „Es droht nicht weniger als ein Krieg in Europa.“ Die Warnung ist begründet. Seine und die Ursachenerklärungen und Handlungs-empfehlungen anderer Politiker und Pressekommentatoren greifen dagegen zu kurz. Ste-phan-Götz Richter, Michael Roth und Josef Joffe finden starke Worte für einen aus ihrer Sicht angemessenen Umgang mit Russland. 
Der Bundesregierung empfiehlt Richter für die bevorstehenden USA-Russland-Sicherheitsgespräche (und folgende NATO-Russland-Gespräche), die russischen Vorschläge „eindeutig zurückzuweisen“. Berlin müsse „Russland die Stirn bieten“. Begründung: „Putin zielt auf ein „Rollback“ all dessen, was seit 1990 in Europa in puncto nationaler Befreiung erreicht worden ist“. 
Michael Roth erklärt: „Das östliche Europa inklusive der Ukraine ist doch nicht der Vorhof der Macht von Herrn Putin. Wir müssen endlich das Denken in nationalen Einflußsphären des 19. Und 20. Jahrhunderts überwinden.“ – „Wir sollten nicht auf Putins Propaganda reinfallen. Niemand verlangt von Ländern, die sich der EU annähern wollen, sich von Moskau abzuwen-den oder ihre traditionellen wirtschaftlichen oder kulturellen Beziehungen zu Russland ab-zubrechen.“
Josef Joffe meint: „Seit 2008 befindet er (der russische Präsident Putin) sich auf Expansions-kurs: Georgien, Krim, Donbas, Intervention in Syrien, Belarus, Kasachstan.“ – „Er hat noch viel zu tun: Die inoffizielle Wiederherstellung des alten Sowjetimperiums, zumindest im „Nahen Ausland“. 
Diese zentralen Behauptungen der Autoren entsprechen weder der Entwicklung in den ver-gangenen drei Jahrzehnten noch den Hintergründen der gegenwärtigen Konfliktlage. Sie bieten daher keinen geeigneten Ansatz zur Konfliktlösung.


2. Verdrängungswettbewerb statt Kooperation zwischen EU und Russland in Osteuropa

Die Ausführungen von Roth treffen in einem wesentlichen Punkt nicht zu. Genau das, was der Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses des Deutschen Bundestages in Abrede stellt, ist Teil der politischen und wirtschaftlichen Realität in Osteuropa. Infolge der seit drei Jahrzehnten anhaltenden Interessenzonenpolitik von EU und NATO ohne und teilweise auch ausdrücklich gegen Russland hatte sich nicht nur de facto, sondern sogar de jure für die Uk-raine spätestens mit den Verhandlungen zum Assoziierungsabkommen eine Entscheidungs-situation herausgebildet: Entweder für Europa oder für Russland, genauer: entweder für den Gemeinsamen Markt der Europäischen Union oder für eine von Russland geführte Eurasi-sche Wirtschaftsunion.
Vor einer solchen Alternative fanden sich die Adressaten des EU-Programms einer „Östli-chen Partnerschaft“: „Im Frühjahr 2009 hob die EU mit Armenien, Aserbaidschan, Moldau, Georgien, der Ukraine und Weißrussland, also mit sechs vormaligen Sowjetrepubliken, eine sogenannte Östliche Partnerschaft aus der Taufe und zwang diese damit faktisch auch, sich zwischen dem Westen und Russland zu entscheiden“ (Gregor Schöllgen, FAZ v.11. 8. 2019). 
Diese Entscheidungssituation spitzte sich für die Ukraine während der laufenden bilateralen 
Verhandlungen über das EU-Ukraine-Assoziierungsabkommen bis zur Maidan-Revolte 2013/2014 und durch diese weiter zu. Den Verhandlungsführern der EU war von Anfang an klar, dass mit der Unterzeichnung dieses Assoziierungsabkommens und der darin vorgese-henen „schrittweisen Integration der Ukraine in den Gemeinsamen Europäischen Markt“ die gleichzeitige Mitgliedschaft in einer Zollunion und künftigen Wirtschaftsgemeinschaft einer Eurasischen Wirtschaftsunion unter Führung Russlands ausgeschlossen war. 
Am 25. 2. 2013 verband EU-Kommissionspräsident Manuel Barroso den Hinweis auf diesen Sachverhalt mit der Forderung an die Ukraine, sich zwischen der von Russland geführten Zollunion und dem Gemeinsamen Markt der EU „zu entscheiden“. Am 11. 9. 2013 bekräftig-te der EU-Kommissar für Erweiterung und Europäische Nachbarschaftspolitik, Stefan Füle, die rechtliche Unvereinbarkeit einer künftigen Mitgliedschaft der Ukraine in einer eurasi-schen Zollunion und in einem „Tiefen und umfassenden Freihandelsgebiet“ mit dem Ziel der weiteren Integration in den Gemeinsamen Europäischen Markt. 
„Die Ukraine war von der Europäischen Union – ungeachtet anderslautender rhetorischer Beteuerungen – praktisch vor die „strategische Wahl“ gestellt worden, zwischen europäi-scher und eurasischer Integration zu entscheiden. Von Seiten Brüssels war kein Versuch unternommen worden, Russlands legitimes ökonomisches Interesse an der Ukraine zu be-rücksichtigen – geschweige denn durch eine pan-europäische „Synthese“, konkret durch ei-nen gemeinsamen Freihandelsraum zwischen Europäischer Union und der Russländischen Föderation bzw. Moskaus eurasischen Konstruktionen den Interessenkonflikt zu überwinden“ (So Winfried Schneider-Deters in seiner umfassenden Darstellung zum Ukraine-Problem).
Der seit der politischen Zeitenwende 1990/1991 über Jahrzehnte zunehmende ökonomische und militärische „Integrationswettbewerb“ zwischen den westlichen Gemeinschaften EU und NATO und ihren östlichen Alternativen von der „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“ (GUS) zur „Eurasischen Wirtschaftsunion“ (EAWU) spitzte sich im politischen Kampf um die Ukraine zu und wurde mit dem von der EU 2009 eröffneten Entwicklungsprogramm einer „Östlichen Partnerschaft“, das mit der Ukraine sechs ehemalige Sowjetrepubliken umfasste, Russland aber ausschloss, zu einem „Verdrängungswettbewerb“, in dem Russland endgültig zu unterliegen drohte - und sich am Ende gegen diese Niederlage mit völkerrechtswidrigen Mitteln militärischer Gewalt zur Wehr setzte.
 

3. Die Schlafwandler

Bei unveränderter Fortsetzung des Integrationskurses von EU und Ukraine unter Ausschluss Russlands und ohne dessen frühzeitige effektive Beteiligung an Verhandlungen zur Ergeb-niskorrektur und vor Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens verlor Russland mit der Ukraine seinen wichtigsten traditionellen, durch vielfältige Arbeitsteilung verbundenen Wirtschaftspartner. Und mehr noch: Das russische Projekt eines Eurasischen Wirtschafts-raums verlor mit der Ukraine einen seiner wirtschaftlichen und politischen Eckpfeiler.
Nach der gewaltsamen Westwendung der Ukraine durch die Maidan-Revolte und nach Un-terzeichnung des Assoziierungsabkommens 2014 aufgenommene, dreiseitige Nachverhand-lungen zwischen EU, Ukraine und Russland verliefen ergebnislos. Das ist erklärlich: Für Russ-land war die Ukraine damit - vorerst - vom strategisch wichtigsten Wirtschafts- und Sicher-heitspartner zum Gegner und Sicherheitsrisiko geworden. 
Mit Recht wird angesichts dieses weiteren Vormarsches von EU und NATO nach Osteuropa bis an die russischen Grenzen, aber auch der zeitweisen Unterschätzung der ökonomischen und politischen Folgen des Assoziierungsabkommens durch eine am Ende zur gewaltsamen Wahrung ihrer Interessen entschlossene russische Regierung und eine zwischen beiden schwankende, vergeblich nach einem Kompromiss zwischen Ost und West suchende ukraini-sche Regierung davon gesprochen, die Konfliktparteien EU, NATO, Russland, Ukraine, zu denen noch die USA zu zählen sind, hätten sich „wie Schlafwandler“ verhalten (So Katja Glo-ger in Anlehnung an Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Welt-krieg zog). 


4. Die große Machtverschiebung: Sowjetrusslands Rückzug aus Osteuropa

Dem von Richter angesprochenen welthistorischen Umbruch der Jahre 1990/1991 und vor allem der Zustimmung der Sowjetregierung verdankt Deutschland seine erneute Vereini-gung. Eine wesentliche Grundlage dafür war das von Bundeskanzler Willy Brandt mit seiner neuen Ostpolitik geschaffene, vom Kanzler der Einheit Helmut Kohl fortgesetzte Vertrauens-verhältnis zwischen der deutschen und der russischen Staatsführung. 
Anfang 1991 löste sich der „Warschauer Pakt“, das osteuropäische Gegenstück zur NATO, auf. Ende 1991 zerfiel die Sowjetunion. In den Jahren 1991 – 1994 zogen sich die russischen, ukrainischen und weißrussischen Armeen unter desolaten Umständen aus der ehemaligen DDR und Osteuropa in ihre Heimatländer zurück. 
Diese Zurückverlagerung des sowjetischen und russischen Sicherheits- und Einflussbereichs rund 2000 Km nach Osten ist und bleibt die größte Machtverschiebung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Sicherheitslage Deutschlands und Europas hatte sich damit von Grund auf gewandelt, die Russlands auch: Der „Feind im Osten“ war verschwunden. Die NATO hatte ihre Daseinsberechtigung als „Verteidigungsbündnis“ verloren, blieb aber im Gegensatz zum Warschauer Pakt weiter bestehen und begann, sich nach Osten zu erwei-tern. 
Sowohl die Regierung Bush als auch die Regierung Clinton lehnten die damals diskutierte Idee eines paneuropäischen Sicherheitskonzepts, in dem die KSZE künftig als transnationale Sicherheitsgemeinschaft unter Einschluss Russlands an die Stelle de NATO als „Verteidi-gungsgemeinschaft“ treten sollte, entschieden ab. Die machtpolitische und durchaus nicht sicherheitspolitische Begründung der U.S.-Administration formuliert die Historikerin Mary Elise Sarotte aufgrund ihrer Quellenforschungen zusammenfassend im Klartext: „denn das hätte zur Folge: Washington würde dann eine kleinere Rolle spielen bei der europäischen Sicherheit“. Die KSZE als europäische Sicherheitsorganisation „müssen wir verhindern. Das wäre für uns echt gefährlich. Die Sowjetunion ist nicht mehr gefährlich. Aber wenn die Euro-päer sich zusammentun und die KSZE als Sicherheitssystem ausbauen, dann stehn wir außen vor. Das ist also von uns unerwünscht. Wir müssen die NATO stärken, damit das nicht pas-siert“. 
An dieser Haltung der U.S.-Außenpolitik hat sich bis heute nicht nur substanziell nichts ge-ändert. Vielmehr darf sich diese Politik der USA mit der erfolgreich unterstützten wirt-schafts- und sicherheitspolitischen Westwendung der Ukraine, verbunden mit der Zerstö-rung der trotz erheblicher Divergenzen bis 2014 insgesamt kooperativen Beziehungen der Ukraine zu Russland in der Verfolgung der hegemonialen Interessen der USA in Europa be-stätigt sehen: Für die USA, nicht für Europa war und ist der „Euro-Maidan“ ein Erfolg.
In Anbetracht dieses Sachverhalts von Putins angeblichem Bestreben zu sprechen, die unter-gegangene Sowjetunion und deren politischen Herrschaftsbereich wieder herstellen zu wol-len, geht an den historischen Realitäten vorbei und entbehrt der Grundlage.


5. Die vertane Chance: Gorbatschows Vision eines gemeinsamen Europäischen Hauses mit Russland  

In der Charta von Paris entwarf die OSZE 1990 den Rahmen für ein gesamteuropäisches
Sicherheitssystem unter Einschluss Russlands. „Eine solche Chance hatte es in der Geschich-te des eurasischen Kontinents noch nie gegeben“, schreibt Horst Teltschik, Sonderbeauftrag-ter Bundeskanzler Kohls für die Verhandlungen mit Russland. Diese große Chance wurde nicht genutzt. 
Doch das Modell eines „gemeinsamen europäische Hauses“ unter Einschluss Russlands ist nach wie vor aktuell - entgegen von den USA vertretenen transatlantischen Konzepten einer Russland ausgrenzenden „Politik der Stärke“. Denn nur auf der Grundlage eines wechselsei-tig wirkenden institutionalisierten Sicherheitssystems, wie es die Charta von Paris 1990 erstmals konzipierte, ist eine gesamteuropäische Friedensordnung zu entwickeln, in der so-wohl die Sicherheitsinteressen Russlands als auch die seiner unmittelbaren Nachbarn, der baltischen Staaten, Polens und der Ukraine dauerhaft befriedigt werden können. 
Der Gedanke der Reziprozität und Unteilbarkeit von Sicherheit: „Sicherheit ist unteilbar; und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden“ wurde und wird bis heute konterkariert durch das ebenfalls von der Charta verbriefte „Recht der Staaten, ihre sicherheitspolitischen Dispositionen frei zu treffen“. Und das heißt: der fortexistierenden NATO beizutreten, wie es seither 14 postsozialistische Staaten Osteuropas taten (s. u. Ziff. 7.) - oder eben nicht. Damit war das Konzept einer gemeinsamen Europäi-schen Sicherheit unvollendet geblieben – und wie sich nun in der Ukraine-Krise zeigt, letzt-lich zum Scheitern verurteilt. Denn die rechtliche und tatsächliche Sicherheitslage von NATO-Mitgliedern und Nichtmitgliedern unterscheidet sich wesentlich. Und dieses struktu-relle Defizit überbrückt auch die NATO-Russland-Grundakte von 1997 nicht, sondern setzt es fort, indem sie das Nichtmitglied Russland von der Beteiligung an Entscheidungsprozessen ausschließt und dagegen die Entscheidungsfreiheit der Mitglieder bestätigte. 
Ohne die bisherige Einflusszone und ein umgebendes Militärbündnis sah und sieht sich Russland seitdem mit neuen Sicherheitsrisiken konfrontiert. Diese Risikosituation nimmt aus russischer Sicht mit fortgesetzter Osterweiterung der NATO weiter zu. Und sie erreicht mit der laufenden militärischen Aufrüstung der Ukraine eine neue Dimension. 


6. Rechtliche oder politische Grenzen der NATO-Osterweiterung?

Für die seinerzeitige sowjetische Zustimmung zur deutschen Einheit und die Einbeziehung der ehemaligen DDR in die NATO-Strukturen waren finanzielle Zuwendungen Deutschlands in Höhe von rund 12 Mrd. DM ein bedeutsamer Faktor. 
Ebenso wichtig waren mehrfache mündliche Zusagen von westlicher Seite in Gesprächen, u. a. durch U.S.-Außenminister Baker, Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher (dazu die amerikanische Historikerin Mary Elise Sarotte), die NATO nicht weiter, d. h. über das Gebiet der ehemaligen DDR, hinaus nach Osten zu erweitern. 
Dass diese Zusagen - infolge schwacher Verhandlungsposition der vor dem politischen, wirt-schaftlichen und finanziellen Zusammenbruch stehenden Sowjetunion in der Endphase der Präsidentschaft Gorbatschow - nicht die Rechtsform schriftlicher Vereinbarungen erreichten, nimmt ihnen nicht ihre politische Bedeutung als Faktum der Gespräche und „ungeschriebe-ne Geschäftsgrundlage“, die bedeutsam für die Willensbildung der sowjetischen Regierung in diesem entscheidenden Zeitfenster war. Diese Zusagen haben ihre von westlicher Seite gewollte, vertrauensbildende politische Bedeutung entfaltet und auch nicht verloren mit der nachfolgenden Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrags, in dem ein Ausschluss späterer NATO-Osterweiterung keine Erwähnung fand.
Hauptziel des nächsten Jahrzehnts, so erklärte 1990 der damalige NATO-Generalsekretär, der deutsche Oberst und Verteidigungsminister unter Helmut Kohl, Manfred Wörner, in sei-ner Brüsseler Grundsatzrede, sei der Aufbau „einer neuen europäischen Sicherheitsstruktur, die die Sowjetunion und die Staaten des Warschauer Paktes umfasse“. Es gehe für die Sow-jetunion darum „nicht aus Europa herausgedrängt zu werden“. 
An diese Rede Wörners erinnerte Präsident Putin 2007 auf der Münchner Sicherheitskonfe-renz.
Genau das, nämlich die Herausdrängung Russlands aus Europa, geschah und geschieht aber bis heute im Prozess fortgesetzter Osterweiterung der Einfluss- und Interessenzonen von NATO und EU ohne Beachtung russischer Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen. 


7. NATO-Osterweiterung - Unterlegenheit Russlands und „das russische Dilemma“

Inzwischen (im Jahr 2022) sind die EU durch Aufnahme von 11 postsozialistischen Staaten Osteuropas auf 27 Mitgliedsstaaten mit einem BIP von rund 13,3 Billionen € und die NATO nach fünf Osterweiterungsschritten in den Jahren 1999, 2004, 2009, 2017 und zuletzt 2020 durch Aufnahme von 14 postsozialistischen Staaten Osteuropas, darunter mit den baltischen Staaten drei ehemalige Sowjetrepubliken, auf 30 Mitgliedsstaaten mit Militärausgaben von zusammen rund 1,1 Billionen USD angewachsen und bis an die Grenzen Russlands vorge-rückt. 
Im Vergleich dazu machen die Wirtschaftskraft Russlands nur rund ein Zehntel der Wirt-schaftskraft der EU und die Militärausgaben Russlands weniger als ein Zehntel der Militär-ausgaben der USA und sogar nur rund ein Zwanzigstel der Militärausgaben der NATO-Staaten insgesamt aus. 

Gegenüber dieser wirtschaftlichen und politischen Dynamik der westlichen Gemeinschaften und ihrem freiheitlichen demokratischen Gesellschaftsmodell erweist sich das von Russland 
entwickelte konservative Konkurrenzmodell autoritärer Präsidialdemokratien auch in den osteuropäischen, kaukasischen und mittelasiatischen Nachbarstaaten Russlands in Gestalt der Eurasischen (Wirtschafts)Union als weniger erfolgreich und auch politisch weniger at-traktiv für erhebliche Teile der dortigen Gesellschaften – und damit letztlich als unterlegen im Wettbewerb der postsozialistischen Wirtschafts- und Regierungssysteme. 
Hinzu kommt das „russische Dilemma“, einerseits zu groß, andererseits auf einer Reihe von Feldern (Modernisierung und Leistungsfähigkeit von Wirtschaft, Infrastruktur, Verwaltung, unabhängige Justiz) zu wenig entwickelt und daher nicht bereit und in der Lage zu regulärer Mitgliedschaft in EU und NATO zu sein. 
Tatsächlich war als Lösung des europäischen Sicherheitsproblems eine NATO-Mitgliedschaft auf sowjetischer, später russischer und auch auf westlicher Seite in der End-phase Gorbatschows und der Anfangszeit Putins angedacht aber von keiner Seite ernsthaft weiter verfolgt worden. 
Die Dimension der eurasischen Großmacht und nach den USA zweitgrößten Atommacht Russland hätte zudem das Integrationsvermögen beider Gemeinschaften, sowohl der NATO wie der EU, überfordert. 
Wichtiger noch: Eine Einbeziehung der Sowjetunion und später Russlands in die NATO wäre geeignet gewesen, den Hegemonieanspruch der USA in Frage zu stellen und Russland bei der Gestaltung einer europäischen Sicherheitsarchitektur eine wesentlich größere Rolle einzuräumen, als die U.S.-Außenpolitik dies für wünschenswert hielt (Siehe dazu Mary Elise Sarotte, oben Ziff. 4).


8. Auswege: Kompetenzerweiterung des NATO-Russland-Rates und Weiterdenken des Meseberg-Memorandums

Geeignete Auswege könnten Konzepte einer externen jedoch substanziellen Beteiligung Russlands „auf Augenhöhe“ an wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Entscheidungsbil-dung in beiden Gemeinschaften bieten. 
Für die EU wurde ein solches Beteiligungskonzept für Russland im Meseberg-Memorandum 2010 von Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Medwedjew entworfen, jedoch nicht weiter verfolgt. Das aus speziellem Anlass (Transnistrien-Konflikt) konzipierte Modell für eine Be-teiligung Russlands an gemeinsamer Konfliktlösung mit EU- Organen enthält entwicklungs-fähige Grundgedanken.     
Für die NATO bietet der Ständige Gemeinsame NATO-Russland-Rat in der NATO-Russland-Grundakte von 1997 ein Forum für Information und Konsultation. 
Dieser Rat bleibt jedoch hinter dem Konzept der Charta von Paris 1990 einen wesentlichen Schritt zurück, da er kein über Information und Konsultation hinausgehendes substanzielles Mitwirkungsrecht an Entscheidungen über Sicherheitsfragen vorsieht. 
Die ständig wiederholte, stereotype Begründung: „Kein Veto-Recht für Russland“ und „freie Bündniswahl für souveräne Staaten“ trifft zwar für den bisherigen Zustand einer Russland-ausschlusspolitik zu – ohne rechtlich zwingend zu sein. 

Diese Argumentation führt im Konfliktfall, da Russland dann vor der Tür bleibt, nicht weiter und zu einer möglichen Einigung sondern, wie sich zeigt, in gefährliche Sackgassen politi-scher Sprachlosigkeit, aus der es dann politische Auswege jenseits von Rechtsbehauptungen zu finden gilt. 


9. Alte und neue Konfliktpotenziale

An neueren Beispielen für die Folgen dieses politischen Konfliktlösungsdefizits im Kommu-nikationsmechanismus des bisherigen NATO-Russland-Rats fehlt es nicht. Wobei die Kon-fliktlösung erschwert wird durch – historisch begründete – Vorbehalte der baltischen Staa-ten, Polens und neuerdings auch der Ukraine gegenüber Verhandlungslösungen und Kom-promissen mit Russland:  
(1) Versuch der USA und der Ukraine auf dem NATO-Gipfel 2008 in Bukarest entgegen aus-drücklichen Sicherheitsvorbehalten Russlands die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine ohne russische Verfahrensbeteiligung durchzusetzen. Dieser Versuch scheiterte am Widerspruch Deutschlands und Frankreichs und führte zu ein einer „Kompromissformel“, die den späteren NATO-Beitritt der Ukraine ohne Zeitangabe in Aussicht stellt. Die Ukraine hat in ihrer refor-mierten Nach-Maidan-Verfassung den NATO-Beitritt des Landes, den Janukowitsch aus der Verfassung streichen ließ, erneut zum Verfassungsziel erklärt. 
(2) Bau von Raketenabschussanlagen unter U. S.-amerikanischem Kommando in Tschechien, Polen und Rumänien zur angeblichen Abwehr von Raketenangriffen aus dem Iran - das ent-sprechende Raketen aber bis heute nicht besitzt. 
Bau und Inbetriebnahme dieser auch gegen Russland umrüstbaren Abschussanlagen erfolg-ten ohne Beteiligung Russlands, das sich durch diese Raketen bedroht und darin mit Grund eine Verletzung der NATO-Russland-Grundakte sieht (dazu Hauke Ritz, „Die Welt als Schachbrett“). 
(3) Durchsetzung der Unterzeichnung und Ratifizierung des Assoziierungsabkommens EU-Ukraine nach dem mit der Maidan-Revolte gewaltsam erzwungenen, von den USA und der EU wirksam unterstützten Regierungswechsel 2014 und seitdem schrittweisen Eingliede-rung der Ukraine nicht nur in das Wirtschafts- und Rechtssystem der EU sondern auch in deren System militärischer Sicherheit.  
(4) Von den USA und einzelnen verbündeten NATO-Staaten (wie Großbritannien: Lieferung 16 kleinerer Kriegsschiffe sowie von Panzerabwehrraketen an die Ukraine) im Rahmen und jenseits der NATO und ihres Beschlussverfahrens mit hohem finanziellen und personellen Aufwand (Wert dieser bisherige Aufrüstung der Ukraine nach Stefanie Babst rund 2,5 Mrd. USD) - Stichwort „Hilfe zur Selbstverteidigung“ - betriebene militärische Ausbildung und Aufrüstung der Ukraine mit westlichen, NATO-kompatiblen Waffensystemen.
(5) Zur Modernisierung von Ausbildung und Aufrüstung der Ukraine durch die USA und ande-re NATO-Staaten kommt die zielstrebige Aufrüstung durch die eigene, seit den Zeiten in-trasozialistischer Arbeitsteilung gut entwickelte, leistungsstarke Waffenindustrie der Ukrai-ne selbst. Die Ukraine zählt weltweit zu den 10 größten Waffenexporteuren.
(6) Der Russland-Ukraine-Konflikt entwickelt sich infolge dessen nicht, wie bisweilen ange-nommen, zu einem „eingefrorenen Konflikt“. Vielmehr führt die - ungeachtet vereinbarter aber nach OSZE-Beobachtungen beidseitig verletzter Waffenruhe fortgesetzte - militärische Aufrüstung der Ukraine von westlicher Seite und der sog. Volksrepubliken Donezk und Lugansk von russischer Seite zu einem stetig weiter wachsenden Konfliktpotenzial. Die unkalkulierbare Eigendynamik dieses Vorgangs ist in Begriff, die europäische Friedensordnung dauerhaft zu gefährden. 
Denn es kann angenommen werden, dass Russland und seine Militärführung der im Gange befindlichen Aufrüstung der ukrainischen Armee dann nicht länger ohne militärische Gegen
reaktion zusehen werden, wenn mit wachsender Schlagkraft der Ukraine die Möglichkeit oder sogar Wahrscheinlichkeit wächst, eine „militärische Lösung“ des Konflikts in der Hoff-nung auf westliche, insbesondere U.S.-amerikanische Unterstützung zu suchen.  


10. Politische Mitverantwortung der Ukraine, differente Interessen und geteilte Meinung

Nicht nur Russland durch seine völkerrechtswidrige militärische Intervention, sondern auch die USA, NATO und EU, nicht zuletzt die Ukraine selbst als handelnder Maidan-Akteur er-weisen sich entgegen landläufigen Narrativs als Mitverursacher und damit auch als politisch Mitverantwortliche des Russland-Ukraine-Konflikts. 
Dies gilt insbesondere für die Beteiligung von Kräften eines neuen, extremen ukrainischen, antirussischen Nationalismus an der Maidan-Revolte. Zu deren ideologischen Leitfiguren gehörten auch umstrittene Personen wie der Nazi-Kollaborateur und Judenverfolger Stepan Bandera sowie der dem rechtsnationalen Spektrum der Ukraine zuzuordnende Rada-Abgeordnete Oleh Tjahnybok. Die Teilhabe derartiger politischer Kräfte am Gründungsmy-thos einer „neuen europäischen Ukraine“ nach dem „Euro-Maidan“ könnte für europäischen Friedenserwartungen und Sicherheitsinteressen auf der Suche nach Konfliktlösungen und Kompromissen sowohl mit Russland als auch mit der Ukraine noch zum Problem werden. Dass es sich bei diesem alten und neuen antirussischen ukrainischen Nationalismus nicht um Randerscheinungen sondern Überzeugungen eines erheblichen Teils der politischen Elite der gegenwärtigen Ukraine handelt, unterstrich der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, mit Besuch und Blumenniederlegung am Grab von Stepan Bandera in Mün-chen ( Was die Bundesregierung in der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage bestätig-te.).   
Die wirtschaftlichen und Sicherheitsinteressen Europas und auch Deutschlands sind in wesentlichen Punkten – z. B. bei der Energieversorgung und North Stream II – nicht mit denen der Nach-Maidan-Ukraine identisch. Fragwürdig ist daher eine deutsche und europäische Ostpolitik, die sich dauerhaft in den Dienst einer konfrontativen „Konfliktstrategie“ der Ukra-ine gegenüber Russland in einem Konflikt stellen lässt, den die Ukraine durch den und nach dem „Euro-Maidan“ wesentlich mitverursacht hat – und der mit einer solchen Strategie nicht lösbar ist. 
Geteilter Meinung waren und sind auch die Ukrainer selbst über ihre politische Zielsetzung. Bis zum militärischen Ausbruch des Konflikts 2014 sprach sich eine Mehrheit in der gesam-ten Ukraine für gute Beziehungen sowohl zur EU wie zu Russland aus. Für einen NATO-Beitritt ihres Landes waren 2006 nur rund 25 – 30 % der Ukrainer. 
Letzteres hat sich unter dem Eindruck der militärischen Intervention durch Russland geän-dert: Eine erhebliche Mehrheit der Ukrainer, allerdings nach wie vor nicht im Süden und Osten des Landes, befürwortet nun einen NATO-Beitritt. Dies gilt inzwischen auch für einen mehrheitlich befürworteten EU-Beitritt. 
Doch Meinungsdivergenzen bleiben: Bei den jüngsten Parlamentswahlen von 2019 mit weniger als 50 % Wahlbeteiligung - und ohne die vermutlich mehrheitlich prorussisch votie-renden Wähler der sog. Volksrepubliken Donezk und Lugansk - erhielt die prorussische Op-positionsplattform rund 13 % der Listenstimmen und damit 43 von 450 Sitzen in der Rada. In der Frage der Westintegration war die Meinung im Westen und Osten der Ukraine vor dem Maidan ebenfalls geteilt: Für einen EU-Beitritt waren im Westen der Ukraine 85 %, in Kiew und der Zentralukraine 56, im Süden 30 und im Osten nur 8% der Bevölkerung.
Die Mehrheit der wahlberechtigten Bevölkerung auf der Krim - die 1954 in einer politischen Aktion des damaligen Generalsekretärs der KPdSU, des Ukrainers Nikita Chruschtschow, auf zweifelhafter Rechtsgrundlage von der Russischen in die Ukrainische Sowjetrepublik inner-halb der UdSSR „verschoben“ wurde (zu den Hintergründen dieses Vorgangs Gwendolyn Sasse sowie Doris Wydra) – stimmte am 16. 3. 2014 in einem Referendum für die Separati-on 
der Krim von der Ukraine und Aufnahme in die Russische Föderation. 
Im Falle einer Wiederholung dieser - umstrittenen - Abstimmung, der überwiegend und auch in einer - rechtlich nicht bindenden - UN-Resolution die Rechtswirkung abgesprochen wird, würde erneut die Mehrheit der Krimbevölkerung gegen ihren Verbleib in der Ukraine und wieder für ihren Anschluss an Russland stimmen (Wie neuere empirische Erhebungen bestätigen, dazu ebenfalls Gwendolyn Sasse). 
Dieser unbestreitbare Mehrheitswille der Krimbevölkerung bleibt jedenfalls auch dann ein relevanter und zu berücksichtigender Faktor politischer Entscheidungsbildung im Ukraine-Konflikt, wenn das Verfahren, in dem er 2014 Ausdruck fand, wegen Rechtsmängeln um-stritten ist und ihm überwiegend die Rechtswirkung abgesprochen wird. Die Fortsetzung einer Sanktionspolitik zu Lasten der Krimbevölkerung gegen deren zweifelsfreien Mehr-heitswillen wird damit ihrerseits zweifelhaft. 
 

11. Die Ukraine als geopolitisches „Schachbrett“ – U. S.-amerikanische, europäische und ukrainische Interessendivergenzen  

Das geopolitische Konzept für die Herauslösung der Ukraine als des wichtigsten personell, wirtschaftlich und sicherheitspolitisch mit Russland traditionell verbundenen Nachbarlandes aus dem russischen Einflussbereich formulierte der Sicherheitsberater des U. S.-Präsidenten Carter und außenpolitische Autorität unter Clinton und Obama, Zbigniew Brzezinski in: „Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft“ schon in den Neunziger Jahren. 
Der von westlicher Seite, insbesondere vonseiten der USA - völkerrechtswidrig - unterstützte Maidan-Aufstand stellt sich damit als Teil einer amerikanischen „Strategie der Vorherr-schaft“ in Europa und darüber hinaus dar. Ob und inwieweit auch die - völkerrechtswidrige - russische Reaktion mit militärischer Gewalt auf dieses westliche und ukrainische Vorgehen Teil strategischen Kalküls ist, bleibe dahin gestellt. Ziel dieser amerikanischen Strategie war und ist bis heute nicht die Einbeziehung Russlands in eine transeuropäische Wirtschafts- und Sicherheitsordnung sondern Zurückdrängung („Policy of Containment“) und Isolation Russ-lands von Europa.
Das Interesse der USA an der Loslösung der Ukraine aus dem russischen Einflussbereich ebenso wie die politische Unterstützung und direkte Mitwirkung der USA an diesem Vor-gang und seiner dramatischen Zuspitzung im Maidan-Aufstand stehen außer Zweifel. 
In ihrem bekannten Telefongespräch mit dem U.S.-Botschafter Geoffrey Pyatt (BBC News v. 7. 2. 2014) - für das sich die Stellvertretende US-Außenministerin Victoria Nuland später bei der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini entschuldigte – enthüllt Nuland Einzelheiten der Einflussnahme auf den Maidan-Prozess und die Bildung einer neuen ukrainischen Regie-rung nach dem Maidan. 
Die USA unterstützten die ukrainische Oppositionsbewegung politisch und finanziell, und die U.S.-Botschaft in Kiew bot den Maidan-Aktivisten eine zentrale Anlaufstelle (Näher dazu Nikola Asarow). Nuland selbst und der damalige U.S.-Vizepräsident und jetzige Präsident Joe 
Biden besuchten die Demonstranten auf dem Maidan in Aktion, Nuland verteilte Lebensmit-tel und beide sicherten den Aufständischen ihre Unterstützung zu. 
Ebenso außer Zweifel steht die Völkerrechtswidrigkeit der auch von anderen westlichen Staaten und deren Repräsentanten betriebenen Unterstützung einer mit Gewalt einschließ
lich Explosivkörpern und Waffengewalt verbunden Revolte zum Sturz einer gewählten, lega-len und legitimen ukrainischen Regierung. 
Als unhaltbar erweist sich in diesem Zusammenhang auch das von der ukrainischen Regie-rung und von Medien und politischen Vertretern in Deutschland und Europa bis heute ver-breitete Narrativ, es habe sich bei der Maidan-Revolte um eine weitgehend gewaltfreie, demokratische, proeuropäische „Revolution“ gegen ein „verhasstes, kleptokratisches Re-gime“ einer „moskauhörigen“ Regierung gehandelt. 


12. Der „Euro-Maidan“ und seine „dunkle Seite“ - eine „europäische Erfolgsgeschichte“?

Vor dem Gewaltausbruch des Maidan-Aufstands im Februar 2014 und dem dadurch herbei-geführten Regierungswechsel in Kiew standen weder eine militärische Intervention Russ-lands zur Unterstützung von separatistischen „Anti-Maidan-Bewegungen“ im Donbass und der Krim noch die Besetzung und (Wieder)Eingliederung der Krim in den Staatsverband der Russischen Föderation - von der herrschenden Meinung als Akt völkerrechtswidriger Annexi-on kritisiert - auf der aktuellen politischen Agenda der russischen Regierung des Jahres 2014. 
Im Gegenteil: Im Vordergrund stand für die russische Führung noch bis Ende 2013, d. h. vor und nach dem politisch fatalen EU-Gipfel von Vilnius, die Auseinandersetzung mit der EU und der Ukraine um deren weitere wirtschaftliche Einbindung entweder in den westlichen, europäischen oder den russischen, euroasiatischen Einflussbereich - oder womöglich, so eine ukrainische Sicht, für eine Übergangszeit in beide Einflussbereiche - allein mit wirt-schaftspolitischen Mitteln (Kreditzusagen, Zollschranken, grenzüberschreitender Personen- und Warenverkehr, Visaverfahren). 
Denn alle ukrainischen Regierungen, auch die des 2010 erneut unter den Augen internatio-naler Wahlbeobachter in sein Amt gewählten und später unter dem Druck bewaffneter „Maidan-Aktivisten“ mit westlicher Unterstützung aus dem Amt gejagten Staatspräsidenten Janukowitsch, waren sich darin einig, die Ukraine schrittweise näher an die EU zu führen, dies allerdings ohne einen Bruch mit Russland zu riskieren. Diese Politik der „Eurointegrati-on“ wurde von der Ukraine, auch von der durch den Maidan-Aufstand gestürzten Regierung Janukowitsch/Asarow - in zahlreichen bilateralen Verträgen mit der EU seit langem verfolgt und in einem Gesetzgebungspaket des ukrainischen Parlaments noch im Herbst 2013 fort-gesetzt. 
Gleichzeitig ging es der damaligen ukrainischen Führung aber – und das unterscheidet die Vor-Maidan-Politik der Ukraine auf konstruktive und für ganz Europa vorteilhafte Weise von ihrer Nach-Maidan-Politik - um die Fortsetzung guter politischer Beziehungen zu Russland und den weiteren Wirtschaftsaustausch mit Russland, Weißrussland und Kasachstan. Dieses mehrfach betonte Ziel bekräftigte ein Memorandum im Mai 2013 in Minsk, in dem die Ukra-ine zwar nicht den angestrebten Beobachterstatus bei der Eurasischen Wirtschaftsunion jedoch Informationsrechte erhielt. 
Eine weitergehende Mitgliedschaft in der Zollunion der EAWU hatte die Regierung Januko-witsch/Asarow abgelehnt, um ihre strategische EU-Annäherung nicht zu gefährden. 

Bis zur - aus ihrer Regierungssicht vorläufigen und auch im Parlament und der Öffentlichkeit dementsprechend als „vorläufig“ kommunizierten - Ablehnung der Unterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens durch die Ukraine auf dem EU-Gipfel in Vilnius am 28. 11. 2013 spitzte sich das west-östliche Tauziehen um die Ukraine weiter zu. 
Die EU stellte der am Rande der Zahlungsunfähigkeit stehenden Ukraine einen Sofortkredit über 650 Mio. € in Aussicht. Einen wesentlich höheren in Aussicht gestellten IWF-Kredit wies die Regierung von Ministerpräsident Asarow wegen aus ihrer Sicht für die ukrainische Bevölkerung unzumutbarer sozialer Bedingungen des IWF (Rentenkürzungen, Energiepreis-erhöhungen) zurück.  
Die russische Regierung bot demgegenüber den Kauf ukrainischer Staatsanleihen, also einen Kredit in Höhe von 15 Mrd. USD ohne derartige Bedingungen, eine erste Sofortzahlung über 3 Mrd. USD, gesicherte Energielieferungen zu günstigen Bedingungen sowie Erleichterungen im russisch-ukrainischen Handel, der damals rund 40 % des ukrainischen Außenhandels ausmachte.
Die daraufhin nach langem Schwanken und bis zum Schluss kontroversen Debatten von der 
ukrainischen Regierung Janukowitsch/Asarow getroffene Entscheidung, das Assoziierungs-abkommen vorerst nicht zu unterzeichnen, um durch Nachverhandlungen befürchtete Kon-flikte mit Russland auszuräumen oder jedenfalls zu minimieren, kann daher durchaus als rationales, verantwortungsvolles Vorgehen im wirtschaftlichen und politischen Interesse ihres Landes unter Abwägung der verschiedenen Faktoren, auch des Zeitfaktors, angesehen werden. 
Im Gegensatz zur in westlichen Medien und von politischen Vertretern in der EU und Deutschland bis heute verbreiteten Behauptung ging es der damaligen ukrainischen Regie-rung Janukowitsch/Asarow auch keineswegs darum, die begonnene EU-Annäherung der Ukraine damit auf „Druck aus Moskau“ zu beenden. Vielmehr suchte die Regierung nach einer zeitlichen und inhaltlichen Kompromisslösung zwischen westlichen und russischen und ihren eigenen Integrationsvorstellungen. 
Dagegen, dass sich die Ukraine unter der Regierung Janukowitsch/Asarow mit der einstwei-ligen Verschiebung der Unterzeichnung des Assoziierungs-Abkommens erneut „unter die Vormundschaft Russlands“ begeben hätte, spricht neben dem von dieser Regierung wie von ihren ukrainischen Vorgängerregierungen intensiv betriebenen proeuropäischen Kurs auch die Tatsache, dass diese Regierung zeitgleich mit den Kreditverhandlungen mit Russland auch solche mit China in Verbindung mit umfangreichen Lieferverträgen aufgenommen hat-te. 
Die Antwort auf die Frage, ob und in wieweit die glorifizierte Maidan-Revolte 2014 und ihre bisherigen Folgen für die Ukraine und für Europa eine politische Erfolgsgeschichte darstel-len, ist nicht nur Sache der Ukrainer und ihrer einseitigen Geschichtsschreibung. Zu tief hat die-ser Weg der Ukraine zu sich selbst und nach Europa auch die europäische Friedens- und Wirtschaftsordnung in Mitleidenschaft gezogen.
Das historische Urteil über den „Euro-Maidan“ ist in vieler Hinsicht offen. Dazu gehört, dass sich das vonseiten der Ukraine und auch in deutschen und europäischen Medien weithin verbreitete Narrativ, es handele sich um eine friedliche, demokratische Revolution, als unhalt-bar erwiesen hat (Wie gründliche Untersuchungen des ukrainisch-kanadischen Historikers Ivan Katchanovski aufzeigen, die auch von Winfried Schneider-Deters nicht widerlegt wurden.). 
Es besteht danach begründeter Anlass zur Annahme, dass nicht Sicherungskräfte (Berkut-Einheiten) der Regierung Janukowitsch, sondern Spezialeinheiten in Verbindung mit rechts-national-oppositionellen Kräften an den Erschießungen durch Scharfschützen, zu deren Op-fern Polizisten und Aufständische zählten, beteiligt waren. Lückenhafte, verschleppte, gera-dezu behinderte oder gänzlich fehlende, bis heute nicht vollständig abgeschlossene Ermittlungen dieser Vorgänge durch die ukrainischen Justizbehörden erhärten diesen Verdacht und führten zu – ergebnisloser - Kritik des Europarats.   
In Anbetracht der prinzipiellen Vermeidbarkeit der Konflikteskalation, der Versuche sicher-heitspolitisch verfehlter Einbeziehung der Ukraine in das USA-dominierte Militärbündnis der NATO ohne substanzielle Einbeziehung Russlands in diesen Entscheidungsprozess, der ge-gebenen politischen Alternativen langsamerer Annäherung von EU und Ukraine, der mit der russischen Gewaltreaktion nach dem Maidan verbundenen, außerordentlich hohen Zahl an Opfern und wirtschaftlichen Verluste und der ebenfalls mit Hohen Kosten verbundenen Zerrüttung der europäischen Sicherheitsarchitektur, nicht zuletzt der wirtschaftlichen Schäden für die Ukraine und der durch die beidseitigen „Sanktionspolitiken“ verursachten Schäden, ist die Eingangsfrage eindeutig zu verneinen: 
Der von westlicher Seite unterstützte „Euro-Maidan“ hat entgegen landläufigen Narrativs keinen „Sieg“ errungen, sondern in einen der größten Misserfolge der europäischen Ge-schichte nach der historischen Wende von 1990/1991 geführt. Er kann – entgegen wieder-holten Stellungnahmen vonseiten der EU – auch nicht als europäische Erfolgsgeschichte an-gesehen werden.


13. Für Deutschland und die EU stellen sich danach weitere Fragen

- Wie ist zu verhindern bzw. zu korrigieren, dass weiterhin mangelnde politische Kompro-missfähigkeit und -bereitschaft eines neuen ukrainischen Nationalismus und seiner politi-schen Vertreter, verbunden mit einer auf militärische Gewaltanwendung und „Sanktionsregime“ reduzierten westlichen und ukrainischen Außenpolitik mit dem Endziel der Herstel-lung des Vor-Maidan-Zustands zu einem neuen großen Krieg in Europa führt? 

- Oder dass eine aus behauptetem oder tatsächlichem „Verteidigungsreflex“ erwachsene militärische Intervention Russlands in Zusammenhang mit der von russischer Seite begon-nenen, von NATO-Seite erwiderten Truppenkonzentration an der russisch-ukrainischen Grenze und in Belarus einen solchen Krieg verursacht? 
Denn kritisch gesehen stellen NATO-Manöver wie „Defender“ 2021 mit fast 30 000 NATO-Soldaten in Russlands Nachbarschaft wie auch der Aufmarsch einer 100 000 Mann starken russischen Militärmacht an der russisch-ukrainischen Grenze ein - politisch vermeidbares – friedenspolitisch unverantwortliches Spiel mit dem Feuer dar. 

- Stellt es ein verantwortbares Verhalten sowohl im kollektiven Interesse der europäischen Friedensordnung als auch im nationalen Interesse der einzelnen europäischen Staaten, ins-besondere der Bundesrepublik Deutschland dar, im Gefolge der USA als „Schutzmacht“ einer neuen, antirussischen Ukraine für deren Freundschaft die Gegnerschaft des früheren stra-tegischen Partners Russland einzutauschen? 

- Ist es an der Zeit, von einer auf Dauer destruktiven Sanktionspolitik als Strafpolitik gegen-über Russland zu einer konstruktiven Politik des Interessenausgleichs überzugehen?
Dies umso mehr, als die bisherige Sanktionspolitik sich als ungeeignet zur Erreichung der damit verbundenen außenpolitischen Ziele erweist und daher mangels Geeignetheit ihre Rechtfertigungsgrundlage verloren hat? 
Denn zu den Rechtfertigungsgründen ohnehin umstrittener „Sanktionspolitik“ gehört deren Geeignetheit. Je länger also und je fühlbarer sich Sanktionsmaßnahmen auf die betroffenen Zivilbevölkerungen auswirken (Gesamtschadensschätzungen deutscher Wirtschafsfor-schungseinrichtungen zu den durch Sanktionen und Gegensanktionen bewirkten wirtschaftlichen Schäden bisher: rund 300 Mrd. €, nach anderen Schätzungen rund 5 Mrd. € jährlich), ohne den damit verfolgten politischen Zielen näher zu kommen, umso mehr wird diese Sanktionspolitik menschenrechtswidrig, da sie die betroffenen russischen, deutschen u. a. Zivilbevölkerungen europäischer Länder zum Objekt politischer Ziele und Maßnahmen jen-seits ihrer zivilgesellschaftlichen Lebenswirklichkeit und Einflußsphären macht, kurz: sie als menschliche Objekte instrumentalisiert.

- Könnte zur Konfliktlösung die Erkenntnis beitragen, dass geopolitische Interessen der USA und genuin europäische Interessen an einer gesamteuropäischen Friedensordnung ein-schließlich Russlands sich erheblich voneinander unterscheiden oder sogar diametral gegen-überstehen – wie nicht erst der Ukraine-Konflikt zeigt?

- Warum wird die seit Jahrzehnten geäußerte russische Kritik an fortgesetzter NATO-Osterweiterung, verbunden mit Vorschlägen für eine transeuropäische Sicherheitsordnung erst jetzt und erst nach 13000 Toten im Ukrainekrieg und dem Aufmarsch von 100 000 russi-schen Soldaten an der ukrainischen Ostgrenze, die zugleich die russischen Westgrenze ist, zum Anlass für seit langem fällige politische Gespräche auf den verschiedenen Ebenen (USA – Russland in Genf, NATO-Russland in Brüssel, OSZE in Wien) genommen? – Deren angeb-lich zu erwartende Vergeblichkeit anschließend zum Leitmotiv publizistischer Kommentare wird?

- Sollte dieser Anfang 2022 erst aufgrund massiver - und kostspieliger – demonstrativer mi-litärischer Manöver Russlands und darauf folgender NATO-Truppenbewegungen eingeleite-te Gesprächsprozess nicht - angenommen deutsche und europäische Russlandpolitik würde Maximen einer rationalen Europäischen Interessen- und Friedenspolitik folgen - zur längst fälligen Dauereinrichtung innerhalb und/oder außerhalb des NATO-Russland-Rates und je-denfalls im Rahmen der OSZE gemacht werden?

- Könnte es zur Aufgabe einer als Forum seit langem etablierten Münchner Sicherheitskon-ferenz werden, über den Austausch konträrer und kontroverser Positionen hinaus zur inhalt-lichen Vorbereitung eines derartigen Diskussionsprozesses substanziell beizutragen? 


14. Wertebasierte Außenpolitik versus Friedens- und Interessenpolitik?

Zukunftweisenden Politischen Mut bewies Bundeskanzler Gerhard Schröder, als er sich wei-gerte, dem Führungsanspruch der Hegemonialmacht USA bei deren geopolitisch und ener-giewirtschaftlich motiviertem Angriff auf den Irak zu folgen. 
Dieser völkerrechtswidrige U.S.-amerikanische Angriffskrieg wuchs sich zu einem der ver-lustreichsten Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen nach dem Zweiten Weltkrieg aus. Eine anerkannten Maßstäben entsprechende, rechtliche Aufarbeitung der in die Tausende gehen-den Strafrechtsverletzungen fand nicht statt – von den menschenrechtlichen und sozial
ökonomischen Folgen der Zerschlagung des irakischen wie auch später des libyschen und syrischen Staates und der Destabilisierung des Vorderen Orients samt daraus resultierender Fluchtbewegung nach Europa ganz abgesehen. 
Von anschließender Sanktionspolitik gegenüber den USA aufgrund „werte- und rechtsbasier-ter“ deutscher und europäischer Außenpolitik ist bislang nichts bekannt geworden. Entspre-chende Strafanzeigen und vereinzelte Ermittlungsverfahren verliefen folgenlos.
Da die entsprechenden Delikte, soweit es um dokumentierte Tötungshandlungen geht, nach dem auch in Deutschland geltendem Internationalen Strafrecht nicht verjähren und nach dem Weltrechtsprinzip auch deutsche Strafverfolgungsbehörden weiterhin zuständig sind - siehe den Fall des syrischen Arztes Alaa M. vor dem OLG Frankfurt/M - , wäre die neue deutsche Außenministerin Annalena Baerbock berufen, hier politisch tätig zu werden. 
Es sei denn, sie entschiede sich im Sinne des - nicht nur im Strafprozessrecht sondern auch im Internationalen Recht geltenden - Opportunitätsprinzips aus gewichtigen friedens- und interessenpolitischen Gründen für andere Lösungswege jenseits einer etwaigen „normba-sierten Sanktionspolitik“ gegen die USA. 
Mut statt Feigheit aus Gefolgschaft und nicht argumentative Mitläuferschaft ist also gefragt bei der Erarbeitung von Kompromisslösungen für den Ukraine-Russland-Konflikt auf dem langen Weg über eine russisch-ukrainische zu einer künftigen gesamteuropäischen Frie-densordnung, in der z. B. eines fernen Tages auch ein russisch-ukrainischer „Krim-Vertrag“ einen Platz finden könnte.
Jenseits streitiger Rechtsbehauptungen stellt sich das Spannungsverhältnis von Recht und Politik im internationalen anders dar als im nationalen Rechtsraum. Im Raum der internati-onalen Beziehungen verlangt nicht nur das Legalitäts- sondern auch das Opportunitätsprin-zip beidseitigen Interessenausgleichs angemessene Berücksichtigung. Anders wäre Außen-politik als Friedenspolitik außerstande, diesem vorrangigen Ziel aller Außenpolitik zu dienen, und zwar auch und gerade nach begangenen Rechtsverletzungen, in bestehenden Konflikt-fällen und zur Vermeidung weiterer militärischer Eskalation:
„Nun ist die Anwendung militärischer Gewalt seit vielen Jahren ein regelmäßiges Element der U-S-Außenpolitik und als solches immer wieder Gegenstand völkerrechtlicher Debatten, nicht selten – zuletzt etwa 2003 in Bezug auf den Einmarsch im Irak – war die Rechtswid-rigkeit des amerikanischen Handelns offensichtlich.“ (so Oliver Dörr in der Juristenzeitung in einer Ana-lyse des Verhältnisses von Recht und Politik am Beispiel der USA). 
An diesem Punkt zeigt sich über den Streitpunkt der NATO-Mitgliedschaft der Ukraine hin-aus, dass Außenpolitik nicht nur gegenüber den USA, sondern auch und gerade für Deutsch-land und Europa im Verhältnis zu Russland ihrer Aufgabe als Friedenspolitik nur in immer erneuter Suche nach Konfliktlösungen nötigen Falls auch jenseits vermeintlicher oder tat-sächlicher Rechtsgrenzen gerecht werden kann. 
Die Suche nach solchen europäischen Lösungen im Russland-Ukraine-Konflikt als verfehlte „Beschwichtigungspolitik“ unter Hinweis auf das Jahr 1938 abzuwerten, oder - wie unlängst im Berliner Tagesspiegel von Josef Joffe - den gegenwärtigen russischen Staatspräsidenten und sein Verhalten mit Hitler und damit auch mit dessen ungeheuerlichem Vernichtungs-krieg gegen die Sowjetunion zu vergleichen, dem 27 Millionen Menschenleben zum Opfer fielen, ist nicht nur geschichtsblind – es ist inakzeptabel.


15. Russland – Ukraine – Europa: von Öffnung über Abgrenzung - Russlands „eigenen Weg“ – Koexistenz und „westliche Mitschuld“ zu erneuter Kooperation? 

Die Tatsache, dass die derzeitige innenpolitische Entwicklung Russlands europaweit und universell anerkannten rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Grundsätzen vielfach widerspricht, ist kritikwürdig und zu kritisieren. 
Inwieweit „der Westen“, d. h. EU, NATO und USA, diese derzeitige innenpolitische Regres-sion in Russland in Richtung auf ein autoritäres, semidemokratisches Präsidialsystem (jüngstes Negativbeispiel: die Unterdrückung der Arbeit der russischen Menschenrechtsor-ganisation Memorial) durch Ausschließung Russlands von der institutionellen Teilhabe an strategischen Entscheidungsprozessen Europas mitverursacht und jedenfalls durch seine Sanktionspolitiken weiter verstärkt hat, ist eine offene Frage. 
Dabei geht es vor allem aber nicht nur um die Jahre tiefgehender Transformation in Russ-land vom Ende der Ära Gorbatschows über die chaotische Ära Jelzin bis in die erste Amtspe-riode Präsident Putins, als dort die Türen für außen-, wirtschafts- und rechtspolitische Zu-sammenarbeit mit westlichen Einrichtungen aller Art, Besuchern und Beratern weit offen standen. 
Wie weit die Türen offen standen, und was seither für Deutschland und Europa verloren ging, zeigt exemplarisch die historische Rede des im Jahr davor von den russischen Wählern in demokratischer Wahl mit absoluter Mehrheit gewählten Staatspräsidenten Putin vor dem Deutschen Bundestag in Berlin am 25. 9. 2001 – die erste und einzige – und wohl auch für lange Zeit letzte - Rede eines russischen Staatsoberhauptes in deutscher Sprache im erin-nerungsbeladenen Reichstagsgebäude. 
In dieser von der Hoffnung auf und Bereitschaft zur Zusammenarbeit getragenen Rede wies der junge Präsident seine deutschen Zuhörer auf eine aus seiner Sicht programmatische Weichenstellung hin: Zum ersten Mal in der Geschichte seines Landes sei der Sozialhaus-halt größer als der Verteidigungshaushalt. Wurde die historische Tragweite dieser Rede und die darin für Europa und nicht zuletzt für Deutschland liegende Chance von seinen damaligen Zuhörern wahrgenommen? Rückblickend sind Zweifel angebracht.
Seither haben sich nicht nur das Regierungssystem sondern auch Formen der Machtausübung dieses Präsidenten verändert. Inwieweit dieser nach mehr als zwei Jahrzehnte wäh-render Regierungszeit und vergeblichen Versuchen, Russland wirtschaftlich und militärisch seinen Platz in Europa zu verschaffen, noch als „Westler“ oder inzwischen als entschiedener und machtbewusster Verfechter eines „eigenen russischen Weges“ anzusehen sei, bleibe dahin gestellt.     
Diese Tatsachen und die aus demokratischer Sicht für Viele enttäuschende innenpolitische Entwicklung Russlands und seiner zunehmend autoritären Präsidialregierung entbinden die Organe der EU und vor allem die deutsche Regierung jedoch nicht von ihrer übergeordneten historischen Bringschuld und Verfassungspflicht zu einer konstruktiven Außenpolitik als Friedens- und Interessenausgleichspolitik - auch und gerade gegenüber Russland wie auch gegenüber der Ukraine und Weißrussland. Und zwar in deren jeweiliger, gegenwärtiger Ver-fassung - und nicht erst nach deren erhoffter oder erwarteter demokratischer und rechts-staatlicher „Wandlung“. 
Eine Außenpolitik, die Friedens- und Wirtschaftspolitik vorrangig von innenpolitischem 
Verhaltensänderungen anderer Regierungen, in diesem Fall ausschließlich Russlands, ab-hängig zu machen oder auf „Regime Change“ zu warten oder in völkerrechtswidriger Weise hin
zuarbeiten sucht, gerät in Gefahr, ihr primäres Ziel als Friedenspolitik zu verfehlen. Sie ver-liert überdies ihre unentbehrliche Gestaltungsfähigkeit. 
Denn Außenpolitik ist kein Internationales Ersatzstrafrecht und als „Sanktionspolitik“ mit Strafcharakter auf Dauer weder legitim noch funktionsfähig. 
„Mitschuld durch Unterlassen (an dem neuen „Ost-West-Konflikt“) tragen die maßgeblichen 
Regierungen der Europäischen Union durch Missachtung von Moskaus „pan-europäischen“ Initiativen – Putins Vorschlag eines Freihandelsraums „von Lissabon bis Wladiwostok“ und Medwedews Sicherheits- und Verteidigungsarchitektur „vom Atlantik bis zum Pazifik“. Sicher spielt auch die reaktive „Selbst-Viktimisierung“ Russlands (für die vermeintliche „militäri-sche Umzingelung“ eine Rolle.“ 
Diese auch mit ihrem Hinweis auf die negative Wechselwirkung westlicher Zurückweisung und russischer Reaktion begründete Kritik von Winfried Schneider-Deters an deutscher und europäischer Mitverantwortung verlangt von deutscher und europäischer Ostpolitik als Frie-denspolitik mehr als stereotype Wiederholung bekannter Rechtspositionen und Schuldzu-weisungen, drohende Rückgriffe auf innenpolitische Fehlentwicklungen und Rechtsverlet-zungen Russlands oder die Wiederholung der zur außenpolitischen Phrase gewordenen Ma-xime von „Dialogangebot und Härte“.


16. Von einer halben zur ganzen europäischen Sicherheitsarchitektur? 

Den zentralen, seit 2007/2008 in der „Internationalen Gemeinschaft“ unübersehbaren Kon-fliktpunkt bildet die vonseiten der USA angestrebte Aufnahme der früheren Sowjetrepubli-ken Georgien, vor allem aber der Ukraine in die NATO. 
Den Forderungen von russischer Seite, diesen Erweiterungsprozess nicht fortzusetzen, ihn mitzugestalten und weitere Aufrüstungs- und Einsatzbeschränkungen zu vereinbaren, oder ihn sogar in Bezug auf bestehende Mitgliedschaften zu revidieren, werden die Souveränität der Staaten, die Freiheit der Bündniswahl und des daraus folgenden Beitrittsrechts (Art. 10 NATO-Vertrag) entgegengehalten. 
Diese stereotypen Begründungsmuster für die pauschale Zurückweisung russischer Sicher-heitsansprüche und der Forderung nach Selbstbeschränkung des NATO-Osterweiterungsprozesses erweisen sich jedoch, soweit es um die künftigen Erweiterungs-schritte geht, als nicht stichhaltig. 
Der gleiche Souveränitätsgrundsatz erlaubt es auch den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft, dem Beitritt einzelner Staaten die erforderliche Zustimmung auf Dauer oder für einen mehr oder weniger langen, konkreten Zeitraum zu versagen. 
Ebenso wie die Nach-Maidan-Regierung der Ukraine für sich das Recht in Anspruch nimmt, durch Beschluss ihrer zuständigen Verfassungsorgane den NATO-Beitritt ihres Landes, wie geschehen, erneut zum - für die gegenwärtige europäische Sicherheitsordnung fragwürdi-gen - Staatsziel zu erheben, steht es demgegenüber anderen Staaten auch als NATO-Mitgliedstaaten frei und kann sogar rechtlich geboten sein, sich politischer Entscheidungen und Rechtsakte zu enthalten, die ihren eigenen Sicherheitsinteressen widersprechen - wie auf dem NATO-Gipfel von Bukarest 2008 vonseiten Frankreichs und Deutschlands mit ihrem Votum gegen die NATO-Aufnahme der Ukraine geschehen. 
Ebenfalls sind andere NATO-Mitgliedstaaten rechtlich nicht gehindert, derartigen Ableh-nungsentscheidungen durch ihre eigenen Verfassungsorgane eine verbindliche Form zu ge-ben und dies auch gegenüber NATO-Mitgliedstaaten und etwaigen Beitrittskandidaten zu kommunizieren. Der Vorwurf eines unzulässigen Vertrages zu Lasten Dritter wäre dagegen unbegründet. 
Außer Betracht bleibt in der sich derzeit zuspitzenden Konfliktrhetorik auch die Tatsache, dass es im „Modell Österreich“ aufgrund des Moskauer Memorandums 1955 und im „Modell Finnland“ gelungen ist, die Sicherheitsinteressen Russlands und der beteiligten Länder durch Formen einer NATO-Kooperation jenseits förmlicher Mitgliedschaft in Einklang zu bringen. 
Den neuen und weitergehenden russischen Forderungen nach zusätzlichen Sicherheitsgaran-tien auch gegenüber bestehenden NATO-Mitgliedschaften wird von westlicher Seite entgegengehalten – soweit bisher fragmentarische Entgegnungen bekannt wurden - , sie stellten die europäische Sicherheitsordnung in Frage und seien daher von vornherein inakzeptabel. 
Dieses Argument trifft nur dann und nur insoweit zu, als man es bezieht auf die derzeitige europäische, NATO-definierte Sicherheitsordnung Europas. Und zwar wie diese sich unter Führung der USA in den bisherigen fünf Osterweiterungsschritten der NATO seit 1997 ent-wickelt hat: ohne institutionelle Beteiligung Russlands über dessen bloß konsultative Stel-lung im NATO-Russland-Rat hinaus.
Legt man dagegen das für Europa - im Jahre 2022 - nach wie vor auf seine Verwirklichung wartende Konzept der Charta von Paris für eine gesamteuropäische, wechselseitig wirkende Sicherheitsordnung einschließlich Russlands zugrunde, so ergibt sich ein anderes Bild: 
Russland konfrontiert „den Westen“, d. h. Europa, die NATO und die USA mit der aktuellen Forderung, endlich mit der Realisierung des viel besprochenen Sicherheitsprojektes „Europä-isches Haus“ zu beginnen. 
Gemessen am OSZE-Ansatz der Charta von Paris 1990 für eine solche gesamteuropäische Sicherheitsordnung können die gegenwärtigen Vorschläge der russischen Führung daher auch anders verstanden werden: Nicht nur als Infragestellung der derzeitigen, NATO-definierten europäischen Sicherheitsordnung verstanden werden. Sondern zugleich als Auf-forderung zu Verhandlungen über eine neue Sicherheitsordnung durch Schritte in das oft als Ziel genannte „gemeinsame Europäische Haus“ (dazu Horst Teltschik, s. o. Ziff. 5). 
Die Charta von Paris liegt drei Jahrzehnte zurück. Maidan-Aufstand , Westwendung der Uk-raine mit Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens und die Reaktion Russlands auf den Aufstand mit militärischer Aggression und Landnahme haben die Fragilität und Unzuläng-lichkeit des gegenwärtigen europäischen NATO-definierten Sicherheitssystem offengelegt. Sie haben aber auch die Vertrauensgrundlage für politische Vereinbarungen mit Russland beschädigt. Doch die eigentlichen Ursachen für den Ukrainekonflikt, für die Konfliktentwick-lung und seine derzeitige friedensgefährdende Zuspitzung liegen - wie dargelegt - tiefer und früher als 2014 und keineswegs ausschließlich in Russland sondern auch im Verhalten des „Westens“, d. h. von EU, NATO und USA. Ursachen für den gegenwärtigen Konflikt hat nicht zuletzt die Ukraine selbst gesetzt im Zuge ihres neuen, antirussischen Nationalismus auf dem Maidan und danach. 
So gesehen ist der Aufmarsch einer 100 000 Mann starken Armee an der russischen West- und ukrainischen Ostgrenze auch aber nicht nur eine militärische Drohung Russlands gegen-über der Ukraine und eine Warnung vor deren weiterer militärischer Aufrüstung. Sondern er 
ist auch die späte – noch nicht verspätete - politische Aufforderung zu den seit mehr als 30 Jahren fälligen Verhandlungen über Frieden und Sicherheit in ganz Europa - mit Russland. 
Diese Aufforderung des Realisten Putin unterscheidet sich erheblich von der des Visionärs Gorbatschow. Denn während für diesen seinerzeit militärische Drohungen nicht (mehr) in Betracht kamen, setzt Putin sie bewusst als politisches Instrument ein. Dennoch oder gerade deswegen sollte die darin liegende politische Chance auf den verschiedenen Gesprächsebe-nen weiterhin wahrgenommen werden.     


17. Alte und neue Interessengegensätze USA - Europa - Ukraine - Russland
 
Ob die europäischen Staaten in der Lage sind, und ob die neue Führung der USA bereit ist, diese Herausforderung im Sinne von Verhandlungen über eine langfristig zu entwickelnde Europäische Friedensordnung anzunehmen, ist jedoch eine offene Frage. Ob der Aufruf von Staatspräsident Macron am Beginn der französischen EU-Ratspräsidentschaft im Jahr 2022 die seit der Zeitenwende 1990/1991 und der Charta von Paris fällige Europäisierung der europäischen Sicherheitspolitik einleiten kann, ist ebenfalls offen. 
Nicht offen sondern offensichtlich ist dagegen, dass das unter der Regierung Clinton erneu-erte NATO-definierte europäische Sicherheitskonzept der USA, das auf Ausschluss und Isola-tion Russlands von Europa abzielt (siehe dazu Ziff. 4. und 11.), den spezifisch europäischen geopolitischen, wirtschaftlichen und militärstrategischen (zur Lage: Entfernung Nar-va/Estland – St. Petersburg: 140 Km, Donezk – Moskau 1.200 Km, Berlin – Donezk: 2000 Km, Washington – Donezk: 8.500 Km) Interessen Gesamteuropas nicht entspricht.  
Die Erkenntnis aller erfolgreichen deutschen Ostpolitiker von Willy Brandt über Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher und Gerhard Schröder, dass nachhaltige Frie-denspolitik in Europa nicht gegen sondern nur mit Russland möglich sei, gilt nach wie vor. Die Entstehungsgeschichte des Ukraine-konflikts und die westliche Mitverursachung dieses Konflikts (s. dazu Ziff. 2., 6., 12., 15.) bestätigen schmerzhaft die Richtigkeit dieser Maxime – einer Maxime, die mit dem bisherigen NATO-definierten Sicherheitskonzept der USA für Europa unvereinbar ist. Und die auch beidseitiges riskantes Waffengerassel (Anfang 2022) nicht widerlegt.

Diese Erkenntnis gilt auch für die fortgesetzte militärische Aufrüstung der Nach-Maidan-Ukraine. Denn die Ukraine verteidigt an ihren Ostgrenzen nicht - wie immer wieder behaup-tet - die Sicherheit der gegenwärtigen EU- und NATO-Mitgliedstaaten. Diese werden vonsei-ten Russlands in ihrem Bestand und ihren Grenzen nicht in Frage gestellt oder bedroht. 
Vielmehr verteidigt diese „neue Ukraine“ in erster Linie nur sich selbst und ihre kompromisslos antirussische, auf EU- und NATO-Integration gerichtete Westpolitik gegen ihr Nachbarland Russland, das auf diese neue ukrainische Maidan- und Nach-Maidan-Politik mit völkerrechtswidriger militärischer Intervention und Landnahme reagiert hat. 
Die eigentliche, von der Ukraine selbst herbeigeführte, von westlicher Seite lange unterstützte und schließlich gezielt befeuerte Konfliktursache ist daher - entgegen vielfach wiederholtem Narrativ – nicht nur und nicht erst eine die souveräne Existenz der Ukraine bedrohende militärische Intervention Russlands im Jahre 2014.
Konfliktursache ist auch die vorangehende, von einem antirussischen ukrainischen Nationalismus getragene, gewaltbereite und zunehmend gewalttätige Aufstandsbewegung mit dem Ziel der Befreiung nicht nur aus russischer Hegemonie sondern der Lösung aus traditionellen, engen Kooperationsbezie-hungen mit Russland mithilfe eines Regierungswechsels.
Die Herausforderung europäischer Friedenspolitik besteht darin, den verschiedenen Interes-sen der verschiedenen Konfliktbeteiligten gerecht zu werden, ohne sich von der Ukraine in einen Dauerkonflikt mit Russland ziehen zu lassen und damit das Ziel einer gesamteuropäi-schen Friedensordnung unerreichbar zu machen. Einen erfolgversprechenden Verfahrensweg zur Konfliktlösung hat das „Normandie-Format“ bereits eröffnet und die Verfassungsreform zur Dezentralisierung auf der Grundlage der Vereinbarungen von Minsk II wartet auf ihre Umsetzung. 
Ob der von U. S.-Außenminister Blinken im Januar 2022 von den europäischen Staaten ein-geforderte „Schulterschluss“ in der Ukrainefrage verbunden mit einem ablehnenden Grund-tenor gegenüber der russischen Sicherheitsinitiative den unterschiedlichen Interessen der Beteiligten entspricht, bleibt fraglich . 


18. Öl, Gas , China und andere Diskussionsdefizite

Eine medial überhitzte Russland-Ukraine-Debatte in Deutschland Anfang 2022 macht das deutsch-europäisch-russische Energieversorgungsprojekt der Erdgasleitung North Stream II, an dem neben Gazprom (Russland), das die Hälfte der Investitionskosten in Höhe von 9,5 Mrd. € trägt, auch ENGIE (Frankreich), OMV (Österreich), Royal Dutch Shell (Niederlande/Großbritannien), Uniper und Wintershall Dea (Deutschland) beteiligt sind, zum Gegenstand unsachlicher  Kritik.  Die insbesondere von U.S.-amerikanischer Seite mehrfach - so von U.S.-Außenmister Blinken in Berlin und U.S.-Präsident Biden beim Antrittsbesuch von Bundeskanzler Scholz in Washington - eingeforderte Bereitschaft, dieses Projekt im Falle weiterer aggressiver Handlungen Russlands gegenüber der Ukraine zu beenden und die bereits fertiggestellte, vor der Zertifizierung stehende Leitung „still zu legen“, wird als Beweis deutscher Prinzipien- und Gefolgschaftstreue gegenüber den USA und Verlässlichkeit Deutschlands als Bündnispartner in der NATO angesehen - deren Mitglied die Ukraine nicht ist.
Am Beispiel North Stream II treten die im Ukraine-Konflikt virulenten geopolitischen und wirtschaftlichen Interessengegensätze zwischen den USA, Europa und Russland deutlich zu Tage. Dieser deutsch-amerikanische Konflikt um eine Energiepartnerschaft mit Russland auf dem deutschen und europäischen Energiemarkt und um einen in Zusammenhang damit wachsenden deutsch-russischen Wirtschaftsaustausch und dessen Verhinderung hat eine lange, weit vor den Ukrainekonflikt zurückreichende Geschichte. Erster  Höhepunkt dieses Konflikts war das von der Regierung Kennedy mithilfe eines NATO-Ratsbeschlusses v. 21. 11. 1962 gegenüber der Regierung  Adenauer gegen erheblichen Widerstand erzwungene „Röhrenembargo“. Die USA unterbrachen damit jahrelang das erste große Geschäft zwischen der Sowjetunion und der deutschen Industrie nach dem Zweiten Weltkrieg: 
„Zwischen 1959 und dem September 1962 lieferte sie (die deutsche Industrie) 600 000 t hochwertiger Großrohre nicht nur gegen Devisenzahlungen. Denn im Gegenzug stieg der westdeutsche Ölimport aus der Sowjetunion. Zwischen 1958 und 1962 vervierfachte er sich. In der Bundesrepublik Deutschland steigerte er sich sogar von 0,5 auf 3 Mio. t. Die US-Konzerne – Sonj, Socal, Socony, Mobil, Gulf, Texaco – waren alarmiert“ (Zur Wirtschaftsdiplomatie im Kalten Krieg Karsten Rudolph).
Zwanzig Jahre später versuchte die US-Regierung unter Präsident Ronald Reagan 1982 ein zweites Mal, ein großes deutsch-sowjetisches Röhrengeschäft zur Erschließung sibirischer Gasfelder zu verhindern. Die sozialliberale Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Schmidt und Außenminister Hans-Dietrich Genscher lehnte allerdings ein Embargo gegenüber Russland ab.
Diesen über seinen regionalen Bezug hinaus weisenden wirtschafts- und energiepolitischen Hintergrund des Ukraine-Konfliktes erhellt eine Äußerung Leon Panettas. Dieser sprach sich ein weiteres Mal gegenüber Russland für eine Doppelstrategie militärischer und wirtschaftlicher „Eindämmung“ („Containment Policy“) aus, befürwortete Waffenlieferungen an die Ukraine und die Fortsetzung von Wirtschaftssanktionen gegen Russland. „Als letzte Maßnahme fände ich es richtig, wenn die Vereinigten Staaten den russischen Nachbarstaaten Öl und Gas liefern würden, subventioniert, zu fairen Preisen. Wir produzieren ja jetzt eine Menge Energie“.
Im Mai 2014 wurde Hunter Biden, der Sohn des damaligen Vizepräsidenten und heutigen U.S.-Präsidenten Joe Biden, Mitglied im Aufsichtsrat von Burisma Holdings, dem größten privaten Gasproduzenten der Ukraine.
Die vonseiten von Seiten der USA und der EU gezielt gegen die russische Öl- und Gasindustrie als Reaktion auf das Vorgehen Russlands auf der Krim und in der Ostukraine gerichteten Sanktionen sind daher auch in diesem geopolitischen Zusammenhang zu sehen . Das gilt erst recht für die - völkerrechtswidrige - Drohung der U.S.-Regierung mit weiteren exterritorial wirkenden Sanktionen der USA gegenüber deutschen Unternehmen und Institutionen, die mit russischen und anderen beteiligten Unternehmen am Projekt North Stream II zusammen arbeiten.
Prognosen lassen im Rahmen der beschleunigten Energiewende einen steigenden Gasbedarf in Deutschland in diesem Jahrzehnt und wahrscheinlich darüber hinaus erwarten. Erfahrungsberichte im Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft zusammengeschlossener Unternehmen bestätigen übereinstimmend die zuverlässige Vertragserfüllung durch sowjetische und russische Energielieferanten ungeachtet zwischenzeitlicher politischer Konflikte. Die Behauptung drohender  Erpressbarkeit einer zu mehr als 40% von russischen Energielieferungen abhängigen deutschen Wirtschaft findet daher in den Erfahrungen des letzten halben Jahrhunderts keine Grundlage – es sei denn, europäische und deutsche Sanktionspolitiken führten solche Gefahren künftig selbst herbei.
Zu den bereits sichtbaren Folgen fortgesetzter und womöglich intensivierter Sanktionspolitik Europas gegenüber Russland gehört dessen verstärkte Hinwendung zu China. Während die russische Führung europäische durch chinesische Abnehmer  und deren wachsenden Energiebedarf ersetzen kann, brächte diese Entwicklung für Europa und Deutschland erhebliche ökonomische, ökologische und politische Nachteile mit sich. Von einer angemessenen Abwägung deutscher, europäischer, ukrainischer und russischer Interessen auf diesem Konfliktfeld der Energiepolitik ist in einer vorgeblich „werteorientierten“ Diskussion bisher offenbar nicht die Rede.

Nicht nur die offene China-Frage und die für die USA und Europa bedrohlichen Folgen einer Fortsetzung der Russlandausschlusspolitik durch NATO und EU werden angemessen thematisiert. Das gilt auch für die noch näher liegende Frage der EU-Fähigkeit der Ukraine und der Ukraine-Fähigkeit der EU.  Beide Fragen sind aus mehreren Gründen  zu verneinen. Die Erfahrungen aus früheren Beitrittsverfahren wesentlich kleinerer und wesentlich weiter entwickelter Beitrittskandidatenländer wie z. B. Österreich, Griechenland, Kroatien zeigen, dass die Erreichung der  Integrations- und Wettbewerbsfähigkeit im Gemeinsamen Europäischen Markt und der weiteren sozial- und rechtsstaatlichen  Entwicklungsziele der EU im Fall der Ukraine nicht Jahre  sondern eher Jahrzehnte in Anspruch nehmen würde. Und dass für die Fortsetzung dieses Integrationsprozesses Fördermittel und Kredite in Höhe dreistelliger Milliarden-Euro-Beträge, und dies  nicht nur einmalig, erforderlich wären.
Die Fortsetzung einer derartigen EU-Ukraine-Integrationspolitik, wie sie sich die Ukraine als Verfassungsziel vorgegeben hat, wäre daher weder mit dem geltenden EU-Vertragsziel der Bildung "einer immer engeren Union" noch mit  den Rechtsgrenzen des EU-Haushalts vereinbar.  Es sei den, die EU gäbe ihre bisherigen Kohärenz-, Integrations- und Entwicklungsziele - und damit sich selbst in ihfrer bisherigen Verfassung auf. Welchen existenziellen Problemen die gegenwärtige EU bei etablierten Mitgliedsstaaten gegenübersteht, beleuchtet die Rechtsstaats-Entscheidung des EuGH vom Februar 2022 gegen Polen und Ungarn.
Überdies würde die unveränderte Fortsetzung der durch das Assoziierungsabkommen vorgezeichneten EU-Ukraine-Integrationspolitik ohne substanzielle Beteiligung Russlands und die  Einbettung dieses Prozesses in  eine europäisch-eurasiche Rahmenvereinbarung die mit der Maidan-Wende  aufgeworfenen wirtschaftlichen und politischen Gräben zwischen Russland und der Ukraine forlaufend weiter vertiefen. Das kann nicht Ziel Europäischer Interessenausgleichs- und Friedenspolitik sein


19. Ostpolitik als mehrseitiger langer Lernprozess 

Wieweit eine neue deutsche Außenpolitik ihre Gestaltungsfähigkeit als rationale, kompromissfähige Interessenpolitik gegenüber Russland - und in der Energiepolitik soeben auch gegenüber Frankreich und anderen EU-Staaten - bereits verloren hat oder zu verlieren droht, zeigt der unter Abwägung aller bekannten Faktoren einer neuen Energiepolitik nur als irrati-onal zu bezeichnende argumentative Umgang mit dem für Deutschland zumindest während einer längeren Übergangsphase lebenswichtigen Energieversorgungsprojekt North Stream II. 
Zudem kann sich die Fortsetzung einseitiger Sanktionspolitik gegen Russland als folgenrei-cher strategischer Fehler erweisen. Dies jedenfalls als praktizierte „selektive Gerechtig-keit“, solange andere Staaten und auch die Führungsnation der „westlichen Wertegemein-schaft“ in ihrer Innen- und Außenpolitik geltende menschenrechtliche (Beispiel Guan-tanamo) und völkerrechtliche (Beispiele Nicaragua, Irak, Libyen) Standards im Fall der Kolli-sion mit für vorrangig gehaltenen nationalen Interessen nicht beachten - ohne dass „Sankti-onspolitik“ die Folge wäre. 
Zukunftsfähiger könnte stattdessen eine Ostpolitik wirken, in der die Ukraine nach Maidan auf ihrem Weg nach Westen zu erneuter Funktion einer Brücke Europas nach Russland und umgekehrt findet.
Dieser Weg ist nur als längerer, mehrseitiger Lernprozess vorstellbar. 

(1) Für Russland und seine politische Elite geht es in diesem Lernprozess um die Anerken-nung des legitimen Ziels der ukrainischen Mehrheitsgesellschaft, innerhalb gesicherter Grenzen in einem von Russland unabhängigen, souveränen Staat zu leben. Unvereinbar da-mit sind Vorstellungen von einem großrussischen Volk, die dem ukrainischen Staatsvolk ein hiervon unabhängiges, eigenes Existenzrecht absprechen. Unvereinbar ist ebenfalls die Vor-stellung, faktisch durch Geografie und Geschichte geprägte Einflusszonen mithilfe militäri-scher Intervention oder Drohung durchzusetzen. 

(2) Für die Ukraine geht es um die Anerkennung der Tatsache, dass der nach dem Maidan beschleunigt und kompromisslos fortgesetzte Weg der ukrainischen Mehrheitsgesellschaft nach Europa und der Lösung von Russland einen politischen Preis hat: Den Verlust oder zu
mindest die Statusänderung von Teilen ihrer russischen oder auf Russland orientierten Min-derheitsgesellschaft, die auf der Krim und im Osten der Ukraine in den als nicht anerkannte „Volksrepubliken“ konstituierten Gebietskörperschaften Lugansk und Donezk regionale 
Mehrheiten bildet. Und die der „Westwendung“ der Ukraine ihr - von einer Mehrheitsmei-nung in diesem Fall verneintes, im Kosovo-Fall aber bejahtes - Selbstbestimmungsrecht entgegensetzt. 
Der gewaltsame „Euro-Maidan“ und die gewaltsame russische Reaktion darauf haben neue historische Tatsachen geschaffen, die eine Rückkehr zu einem unveränderten „Vor-Maidan-Status“ für die Ukraine wie auch für die anderen Konfliktbeteiligten auf absehbare Zeit aus-schließen. Daran ändern auch Versuche des ukrainischen Gesetzgebers nichts, der gegen-wärtigen ukrainisches Rechtsauffassung entgegenstehende Meinungsäußerungen mittels Staatsschutzstrafrechts zu kriminalisieren. Oder den Wählern der separatistischen Gebiets-körperschaften von Lugansk und Donezk die Ausübung ihres Wahlrechts mittels spezieller „Wahlverbotsgesetzgebung“ versagen zu wollen – was der „Venedig-Kommission“ Anlass zu Zweifeln bot. 
Wie weit der Weg zum politischen Kompromiss unter definitivem Verzicht auf „militärische Lösungen“ im Bewusstsein der gegenwärtigen ukrainischen Führung noch sein mag, zeigt die Reaktion auf - politisch unbedachte, in der Sache gleichwohl diskussionsbedürftige - Äußerungen des deutschen Vizeadmirals Kay-Achim Schönbach. Außer dem Ruf nach Waffen sind von ukrainischer Seite weder Vorschläge zur Lösung verfassungs- und kommunalrecht-licher Probleme bei der Umsetzung der Vorgaben von Minsk II durch die Ukraine, noch die Bereitschaft zur Erarbeitung gemeinsamer inhaltlicher politischer Antwort auf die russi-schen Sicherheitsvorschläge vom 17. 12. 2021 (dazu Joachim Schramm) vernehmbar.

(3) Für beide, Russland und die Ukraine, gehört dazu die Anerkennung wechselseitiger und nur in gemeinsamer Vereinbarung - womöglich unter dem OSZE-Dach oder in Kooperation mit der NATO („Modell Österreich“) - oder in der seit langem und bisher ergebnislos disku-tierten gesamteuropäischen Sicherheitsordnung befriedigender Sicherheitsbedürfnisse ent-lang einer 2300 Km langen gemeinsamen Grenze und darüber hinaus.

(4) Da für die Krim eine Rückkehr zum „Vor-Maidan-Status“ in den ukrainischen Staatsverband in absehbarer Zeit und im Rahmen einer friedlichen Lösung ausgeschlossen erscheint und die politische Legitimation einer solchen Zielsetzung im Hinblick auf den Mehrheitswil-len der Krimbevölkerung grundsätzlich fraglich ist, bleibt als friedensfähiger, zeitlich offener Ausweg neben der faktischen Hinnahme des gegenwärtigen Status quo unter Gewaltver-zicht ein künftiger Krim-Vertrag zwischen Russland und der Ukraine zur Regelung wesentli-cher, drängender Probleme im Lebensinteresse der dort lebenden Bevölkerung und ihrer Menschenrechte – unter Ausklammerung strittiger Statusfragen. 

(5) Für die EU und Deutschland geht es darum, mögliche und mit den Anforderungen einer realistischen gesamteuropäischen Friedenspolitik zu vereinbarende Ausstiegsszenarien aus dem destruktiven, weil Schaden ohne Nutzen verursachenden System der bisherigen „Sank-tionspolitik“ als negativer Symbolpolitik heraus und zu positiven Schritten gestaltender Au-ßenpolitik für eine Erneuerung der strategischen Partnerschaft mit Russland zurückzufinden. 

(6) Eine offene Frage bleibt, wieweit die Neuausrichtung der U. S.-Außenpolitik durch Präsi-dent Biden für die Einsicht Raum lässt, dass eine von den USA betriebene weitere Einbezie-hung der Ukraine in die Einflusszone der NATO und damit der USA ohne Beteiligung Russ-lands an diesem Prozess ebenso wie die fortgesetzte militärische Aufrüstung der Ukraine außerhalb der NATO unvereinbar sind mit gesamteuropäischen Sicherheitsinteressen und einer Friedenspolitik mit und nicht gegen Russland als neuen alten „Feind“ der NATO.   
Diese Erkenntnis ist nicht neu. Sie wurde von John J. Mearsheimer bereits 2014 (in Foreign Affairs Sept/Oct. 2014) formuliert, als der seit der Zeitenwende 1990/1991 virulente Russ-land - Ukraine - Konflikt vor nunmehr sieben Jahren in Gewaltanwendung eskalierte, im Maidan-Aufstand einen Regierungswechsel erzwang und anschließend zur von EU und USA unterstützten, wirtschaftlichen und militärischen „Westwendung“ der Ukraine führte: 
"Why the Ukraine Crisis is the West´s Fault: The Liberal Delusions that Provoked Putin" : "The United States and its European allies share most of the responsibilty for the crisis. The taproot of the trouble is NATO enlargement, the central element of a larger strategy to mo-ve Ukrane out of the Russian orbit and integrate it into the West."
Die gegenwärtige, inzwischen nicht nur die ukrainische sondern auch die russische und da-mit die europäische Sicherheit gefährdende Eskalation dieses Konflikts zeigt, dass der bishe-rige transatlantische Ansatz einer NATO-basierten, Russland ausschließenden und insoweit unvollständigen europäischen Sicherheitsordnung den gegebenen, legitimen gesamteuropä-ischen Sicherheitsbedürfnissen nicht genügen kann.

(7) Ohne Aufnahme der von russischer Seite geforderten Sicherheitsgespräche und langfris-tig wohl auch ohne entschlossene Wiederbelebung und Reform der OSZE (dazu Mirco Gün-ther) sowie substanzielle Kompetenzerweiterung des bestehenden NATO-Russland-Rates erscheint eine nachhaltige Einbindung Russlands über den derzeitigen Ukraine-Konflikt hin-aus schwer vorstellbar. 
Die neuen Mitgliedstaaten der nach Osten erweiterten NATO nach einem halben Jahrhun-dert erneut für den Übergang von konfrontativer zu kooperativer Ostpolitik, nun als Russ-landpolitik der NATO, zu gewinnen, ist zur schwierigen Herausforderung geworden. Wo her-kömmliche diplomatische Wege verschüttet scheinen, können informelle Einrichtungen wie das „Weimarer Dreieck“ (dazu Klaus-Heinrich Standke) sich als zusätzliche Kommunikations-foren bewähren, da hieran neben Polen mit Deutschland und Frankreich auch zwei Unter-zeichnerstaaten des „Normandie-Formats“ mitwirken. Statt im Gefolge jahrelanger, ver-fehlter „Sanktionspolitiken“ Kommunikation „stillzulegen“, bis beidseits nur noch Manöver-geräusche und deren mediale Kommentierung hörbar bleiben, ist Kommunikation auf allen Ebenen und ohne Vorbedingungen eine unverzichtbare Voraussetzung erfolgversprechender Friedenspolitik – wenn diese mehr als ein leeres Wort sein will.  

Berlin Januar 2022 
herwig.roggemann@fu-berlin.de, herwig.roggemann@gmx.de, www.berliner-forum.eu

Herwig Roggemann

Ukraine-Konflikt und Rußlandpolitik
Ein Diskussionsbeitrag zum Ukraine-Konflikt
für eine neue deutsche und europäische Rußlandpolitik
Berliner Wissenschafts-Verlag
2015, 106 S., kart., 22,00 €, ISBN 978-3-8305-3554-6

Der Verfasser: Dr. iur. Dr. h. c., Univ.-Prof. a. D. am Fachbereich Rechtswissenschaft und am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin · Wiss. Koordinator des Interuniversitären Zentrums Berlin/Split/FrankfurtO/Paris I ∙ Garystr. 55 · 14109 Berlin, info@berliner-forum.eu - herwig.roggemann@gmx.de

www.intercentar.de ∙ www.galerie-wannsee-verlag.de ∙ www.berliner-forum.eu
 

Der Ukraine-Krieg – Ursachen und Ausweg
Herwig Roggemann

„Wie stark ist Russland?“ fragt Christoph von Marschall im Tagesspiegel v. 15. 2. 2015.In vielen Punkten ist der Analyse von Marschalls zuzustimmen. Russland ist „dem Westen“, d. h. der NATO, der EU und den USA, militärisch, wirtschaftlich und was die Attraktivität seines politischen Systems anlangt, unterlegen. Die Militärausgaben Russlands machen nur einen kleinen Bruchteil der Militärausgaben der NATO-Staaten aus. Wirtschaftlich ist Russland trotz Rohstoffreichtums auf dem Gemeinsamen Europäischen Markt ebenso wenig wettbewerbsfähig wie seine Anrainerstaaten Ukraine, Weißrussland und Moldawien. „Putin griff zur Gewalt, als seine frühere Politik scheiterte“. Auch das trifft zu. Die Frage, warum die russische Regierung ihre Politik scheitern sah, wird allerdings nicht gestellt.

Mit der Auflösung der Sowjetunion 1991 verlagerte sich der Macht- und Einflußbereich Sowjetrußlands 2000 Km nach Osten. Mit der Osterweiterung von EU und NATO dehnte sich deren Macht- und Einflußbereich schrittweise immer weiter nach Osten aus. Die NATO-Osterweiterung erfolgte entgegen ausdrücklichen Zusagen von westlicher Seite. Daß dies mündlich geschah, ändert nichts an ihrer Rechtswirksamkeit. Den vorerst letzten Schritt der westlichen Paktsysteme nach Osten bis an die russische Grenze erzwang die gewaltsame Majdan-Revolte. Es folgten 2014 die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens EU-Ukraine und die Aufkündigung des Neutralitätsstatus der Ukraine in Vorbereitung späteren NATO-Beitritts. Dadurch sieht Rußland seine Sicherheit bedroht. Die Integration der Ukraine in den Europäischen Markt ohne Rußland zerschneidet den russisch-ukrainischen Wirtschaftsraum. Die von Rußland mehrfach vorgeschlagene Einbeziehung in eine gemeinsame transeuropäische Sicherheitsarchitektur und eine EU-übergreifende Wirtschaftszone haben EU und NATO unterlassen. Auf die große Rede von Präsident Putin 2001 vor dem Deutschen Bundestag haben Bundesregierung und EU bis heute keine konstruktive Antwort gegeben. Einer der besten Kenner des Ukraine-Problems, Winfried Schneider-Deters, faßt das in dem Satz zusammen: Die EU „hat alle „paneuropäischen“ Initiativen des Kreml unbeachtet gelassen“. Das ist die eigentliche Konfliktursache.

Den letzten Anstoß zur Konflikteskalation gaben die bewaffnete Majdan-Revolte und der damit gewaltsam herbeigeführte antirussische Regierungswechsel. Von einem „friedlichen Ringen“ kann dabei nicht gesprochen werden. Der Versuch der Kiewer Regierung, den Osten der Ukraine gegen den Willen vieler seiner Bewohner auf diesem „Weg nach Westen“ politisch einfach „mitzunehmen“, mußte scheitern. Die große Mehrheit der Krimbewohner sind Russen. Der Anteil der Ukrainer macht nur ein Viertel aus. Im Industrierevier des Donbass ist der Anteil der Ukrainer noch viel kleiner. Als die Kiewer Regierung das Recht der russischen Mehrheit in diesen Gebieten auf die russische Sprache und zugleich deren personelle, kulturelle und wirtschaftliche Rußland-Orientierung mit dem Politikwechsel in Frage stellte, regte sich Widerstand. Separatistische Forderungen wurden laut und von Rußland propagandistisch, schließlich auch paramilitärisch und militärisch unterstützt. Bis dahin hatte die russische Führung zu manifesten Aktivitäten oder gar militärischen Interventionen mit dem unmittelbaren Ziel der Abspaltung der Krim und des Donbass keinen Anlaß gesehen. Beides stand nicht auf Putins aktueller Agenda.

Die Frage nach dem „Punkt, der Putin zur Umkehr bringt“, ist bereits beantwortet. Und zwar von einem der besten praxisnahen Rußlandkenner. Im Gespräch mit Anne Will nannte der Vorsitzende des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, Eckard Cordes, drei Punkte: Verzicht der Ukraine auf Nato-Mitgliedschaft, Einbeziehung Rußlands in eine transeuropäische Wirtschaftszone, gleichberechtigte Verhandlungen darüber mit Rußland auf „Augenhöhe“. Damit und mit der rechtzeitigen Einbeziehung Rußlands in die Verhandlungen über die EU-Assoziierung der Ukraine, statt dieses Abkommen als vermeintlich „bilaterale Angelegenheit“ ohne Rußland und gegen seine Interessen durchsetzen zu wollen, wäre es nie zum Ukraine-Krieg gekommen. Er ist das Ergebnis verfehlter Rußlandpolitik der EU und der Bundesregierung.

Jetzt wird der Friede für alle Konfliktbeteiligten teurer. Unabdingbare und aus russischer Sicht wohl nur begrenzt verhandelbare Voraussetzungen sind, von der Regulierung der Kriegsschäden abgesehen, eine ukrainische Verfassungsreform mit regionaler Neuordnung und Autonomiestatus des Donbass sowie – früher oder später - Anerkennung des status quo der Krim als Teil der Russischen Föderation mit international garantierten Minderheiten- und Transitrechten der ukrainischen Krimbevölkerung.

Der aktuelle wirtschaftliche Schade durch den Ukrainekrieg und infolge fragwürdiger Sanktionspolitik ist nicht nur für Rußland und die Ukraine sondern auch für Deutschland mit rund 10 Mrd. € schon jetzt außerordentlich hoch. Die zu erwartenden Spätfolgen werden ihn weiter vergrößern. Neben humanitären und sicherheitspolitischen begrenzen daher auch wirtschaftliche Gründe den westlichen Verhandlungsspielraum und machen ein Ergebnis dringlich.

 

Das Gedenkjahr 2015 gibt der deutschen Vermittlerrolle im ukrainisch-russischen Friedensprozeß zusätzliches historisches Gewicht. Denn der deutsche Angriffskrieg auf die Sowjetunion, der vor 70 Jahren in Berlin zu Ende ging, war das größte, jemals einem Land zugefügte Kriegsverbrechen und kostete mehr als 25 Mio Menschen, zumeist Russen und Ukrainer, das Leben. Keine russische Familie einschließlich der des Staatspräsidenten Putin, in der die traumatische Erinnerung daran nicht noch lebendig wäre. Doch während Holocaust-Gedenken, deutsch-französische und deutsch-polnische Versöhnung zu Bestandteilen deutscher Erinnerungskultur geworden sind und zugleich als politische Zukunftsaufgaben verstanden werden, gilt das für die ebenso wichtige deutsch-russische Versöhnung nicht in gleichem Maße. Auch hier liegt ein Schlüssel zur fälligen Erneuerung europäischer Friedenspolitik – mit Russland.

(Der kursive Teil dieses Textes erschien als Leserbrief im Tagesspiegel v. 22. 2. 2015)

 

Zum Thema: Ukraine-Konflikt und Rußlandpolitik fanden folgende Veranstaltungen statt:

- 5. 11. 2015: Galerie-Wannsee-Verlag (siehe: www.galerie-wannsee-verlag.de),
- 7. 11. 2015: Rotary-Club Berlin-Kurfürstendamm (Kempinski),
- 8. 4. 2016: 38. Pankower Waisenhausgespräch (Teilnehmer: Prof. Dr. Dr. h. c. Herwig Roggemann, Freie Universität Berlin Andreas Metz, Referatsleiter im Ostausschuß der Deutschen Wirtschaft, Moderator: Prof. Dr. Peter-Alexis Albrecht, Goethe-Universität Frankfurt/M),
- 18. 5. 2016: 39. Pankower Waisenhausgespräch (Teilnehmer: Prof. Dr. Dr. h. c. Herwig Roggemann, Prof. Dr. Burkhard Breig, Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin, Daniil Bisslinger, Attache der Russischen Botschaft, Berlin. Moderator: Prof. Dr. Peter-Alexis Albrecht, Goethe-Universität Frankfurt/M)Neuer Text
Share by: