Ukraine-Konflikt und Rußlandpolitik

Herwig Roggemann
Ukraine-Konflikt und Rußlandpolitik

Diskussionsbeitrag zum Ukraine-Konflikt und für eine neue deutsche und europäische Rußlandpolitik -

Vorwort

Diese kleine Streitschrift stellt Fragen nach Entwicklungszusammenhängen sowie Konfliktursachen und vermeintlich eindeutige Rechtspositionen („verbrecherische“ Annexion der Krim“?), Schlußfolgerungen („unheilbarer Bruch des Völkerrechts“?) und Reaktionen (Wirtschaftssanktionen und politische Isolation Rußlands 2014 - ?) in Frage.

Der Verfasser sieht darin eine Möglichkeit, die politische Diskussion über den Ukraine-Konflikt und die deutsche und europäische Rußlandpolitik aus festgefahrenen Geleisen und konfrontativen Stellungen heraus und realistischen Lösungsvorschlägen näher zu bringen. Er hält diesen Versuch auch angesichts zahlreicher neuer – im folgenden Text an entsprechender Stelle zitierter – Ukraine-Veröffentlichungen und Stellungnahmen wissenschaftlicher, politischer, journalistischer oder anderer Herkunft für sinnvoll, ja für notwendig.

In dieser Annahme findet er sich durch eine bedrohlich fortschreitende Sprach- und Hilflosigkeit oder sogar zunehmend destruktive Sprachregelung der politischen Akteure in Deutschland und der EU (G-7-Treffen 2015 in Deutschland ohne Rußland? Fortsetzung sinnloser „Sanktionspolitik“ der EU gegen Rußland ohne rationale Ausstiegsstrategie? EU-Ratspräsident Tusk: Über EU-Sanktionen zu reden sei nur, soweit es um deren Verschärfung gehe?) aber auch aus anderen Gründen bestärkt:

• Der 2015 zum verlustreichen Ukraine-Krieg (mehr als 6000 Tote) gewordene Ukraine-Konflikt hat ebenso wie der latente Krim-Konflikt eine lange Vorgeschichte. Ohne dieser näher nachzugehen, sollte in der Diskussion wenigstens die Frage nach der Bedeutung dieser Vorgeschichten für Rußland, seine Regierung und die Mehrzahl seiner Bürger aber auch für die Ukraine gestellt werden.

• Der Russische Staatspräsident Putin wird oft als Haupt- oder sogar Alleinschuldiger am Ukraine-Krieg angesehn. Nach dem Kausalzusammenhang mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und mit der Politik von EU- und NATO und deren Osterweiterung wird weniger gefragt.

• Politiker – und Journalisten - benutzen Rechtsbehauptungen als politische Argumente, auch wenn diese keineswegs so zweifelsfrei sind, wie oft behauptet. Und Rechtswissenschaftler übersehen bisweilen die Grenzen, die Wirtschaftsinteressen und Sicherheits- oder Machtansprüche der Staaten dem Geltungsanspruch des internationalen Rechts setzen.

• Die kreative Brandt-Bahr-Formel vom „Wandel durch Annäherung“ ist nach wie vor und auch im Ukraine-Konflikt aktuell – und weist einen möglichen Ausweg aus dem Konflikt. Die gegenwärtige Rußlandpolitik bewirkt das Gegenteil ihres behaupteten Ziels: nicht Annäherung Rußlands an Europa, sondern weitere Entfremdung.

• Mit dem Versuch, sechs ehemalige, Rußland benachbarte Sowjetrepubliken dem Europäischen Markt zu assoziieren und schließlich zu integrieren, überschreitet die EU ihr politisches und rechtliches Mandat. Danach haben Funktionsfähigkeit und Integration den Vorrang vor Erweiterung. Auch geht die verfehlte Ausdehnung der „EU-Einflußzone“ bis an Rußlands Grenzen über die finanziellen Möglichkeiten und Haushaltsgrenzen der EU weit hinaus.

• Diese aggressive, von den USA unterstützte, Politik von EU und NATO gegenüber Rußland, verbunden mit der Aussicht auf die nachfolgende Ausdehnung der „NATO-Einflußzone“ von der Elbe 2000 Km ostwärts bis an die Ostgrenze der Ukraine ist die eigentliche Kriegsursache. Zum Auslöser wurde die Majdan-Revolte.

• Andererseits hat auch die russische Führung den legitimen, durch empirische Umfragen und Wahlen erhärteten, auf internationale Rechtsgrundlagen gestützten Mehrheitswillen ihres Nachbarvolks zu akzeptieren, in einem gesicherten Staat zu leben. Dessen innerstaatliche Ausgestaltung durch die fällige ukrainische Verfassungsreform und zwischenstaatliche Einbindung und erneuerte Bestandsgarantie bleibt Gegenstand eines – nach Erfahrungen aus anderen Konfliktregionen - langdauernden Friedensprozesses über Minsk II hinaus.

• Wie alle Großkonflikte (siehe Jugoslawienkrieg 1991 – 1995), beginnt der Ukraine-Krieg eine Eigendynamik zu entwickeln (fortgesetzte Landnahme der Separatisten, Kompromißunfähigkeit der ukrainischen und der russischen Regierung sowie der EU, Lieferung schwerer Waffen und Panzer der USA nach Osteuropa), die zunehmend schwerer und mit Sanktionen als Politikersatz gar nicht mehr zu steuern ist. 

Auf geradezu beklemmende Weise scheinen im Ukraine-Konflikt Mechanismen abzulaufen, wie sie Christopher Clark an der Entstehungsgeschichte des Ersten Weltkriegs diagnostizierte: Daß nämlich die Hauptakteure „in unserer Geschichte das Weltgeschehen durch Narrative (filterten), die sich aus einzelnen Erfahrungen zusammensetzten und von Ängsten, Projektionen und Interessen zusammengehalten wurden, die man als Maximen ausgab“ („Die Schlafwandler“. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München, 2013, S. 712).

Die hier vorgelegten 15 kurzen Thesen suchen die Verbindung politischer, zeitgenossenschaftlicher und wissenschaftlicher Sichtweise. Die politische Argumentation steht im Vordergrund. Die Texte sind in ihrer unterschiedlichen Form und Länge aus einer Reihe von Diskussionen des Verfassers mit deutschen und osteuropäischen, universitären, politischen und anderen Gesprächspartnern hervorgegangen, einzelne Teile in einem kurzen Pressebeitrag, andere in einer seither weiter wachsenden Webseite zur Diskussion gestellt worden. Diese hat bei ihren Adressaten und Lesern ein vielfältiges, teils überraschendes Echo hervorgerufen. Gelegentlich geht der Verfasser im Text auf Berichte und Kommentare anderer Autoren in der Tagespresse oder auf Diskussionsforen ein und nimmt dabei auch gelegentliche Wiederholungen und Überschneidungen in Kauf.

Leserinnen und Leser hiermit zur Fortsetzung der Diskussion eingeladen.

Schnellen Lesern dient die folgende Inhaltsübersicht.

Berlin, den 1. 7. 2015 herwig.roggemann@gmx.de

 

Inhaltsübersicht

1. Außenpolitik als "Strafmaßnahme"

Außenpolitik als "Strafmaßnahme" und Ausgrenzungspolitik gegenüber Rußland ist kontraproduktiv und friedensgefährdend. Eine solche „Anti-Politik“ bedarf der umgehenden Korrektur - notwendige Rückkehr von selbstverordneter politischer Sprachlosigkeit zu politischer, wirtschaftlicher und kultureller Kommunikation auf allen Ebenen und in den verschiedenen bilateralen (Beispiele: Deutsch-Russisches Forum, Petersburger Dialog, Weimarer Dreieck unter Einschluß Rußlands) und multilateralen ( Beispiel: G 7/8) Formaten - Konfliktentstehung und Eskalation durch beiderseitige Fehler)

2. Euroatlantische Interessengegensätze

Interessengegensätze, zumindest Unteressenunterschiede bestehen zwischen: EU - Deutschland - USA - Rußland – Ukraine - Gewinner und Verlierer - Hauptverlierer sinnloser und politisch zunehmend destruktiver Wirtschaftssanktionen sind Rußland und Deutschland aber auch die Ukraine, der die EU und Deutschland durch Sanktionspolitik paradoxer Weise zu helfen meinen, sie aber dadurch ständig weiter schädigen, sowie kleinere EU-Länder, zu denen auch landwirtschaftliche Exportländer wie Kroatien, Bulgarien und Griechenland, zählen, in denen zahlreiche kleine Unternehmen, die sich auf den Rußlandexport ihrer Erzeugnisse eingestellt haben, in ihrer Existenz bedroht sind. Hauptgewinner fortgesetzter Embargo-Politik sind die USA (Rüstungskäufe der osteuropäischen Länder, Verbesserung der Absatzchancen für Fracking-Öl, Verdrängung Rußlands als Konkurrent aus dem europäischen Energiemarkt und erschwerte Modernisierung der russischen Wirtschaft, insbesondere der Öl- und Gasindustrie).

 

3. Risiko einer Destabilisierung Rußlands

Es besteht ein unkalkulierbares Risiko der Destabilisierung Rußlands und der Ost-West-Beziehungen infolge divergierender Wirtschaftsinteressen zwischen USA, EU, Deutschland und Rußland - vom "Röhrenembargo" 1962 zum Rußland-Embargo 2014 - Die Legende von der "Abhängigkeit" Europas und Deutschlands von russischer Energie - Die Alternative: Friedenssichernde wechselseitige (russisch-deutsch-europäische) Wirtschafts- und Energiemarktverflechtung: "Koopertive Interdependenz" als Stabilisierungsfaktor

 

4. Politik und Vertrauen

Nachhaltig erfolgreiche Verständigungspolitik angesichts von Interessengegensätzen und Machtkonflikten setzt ein Mindestmaß an Vertrauen zwischen den politischen Akteuren voraus - Politik und Vertrauen - persönliche Vertrauensbasis als Voraussetzung erfolgreicher Ost- und Rußlandpolitik – ohne gute persönliche und sogar freundschaftliche Beziehungen zwischen Brandt und Breschnew und Kohl und Gorbatschow wären Maueröffnung und Vereinigung der deutschen Staaten nicht möglich gewesen - Defizite gegenwärtiger deutscher Rußlandpolitik nach der für Deutschland und Europa erfolgreichen Vorgänger-Ära Brandt/Schmidt/Kohl/Schröder

 

5. Kern des Konflikts

Kern des gegenwärtigen Ukraine-Konflikts ist Rußlands fehlender Platz in einer paneuropäischen Sicherheits- und Wirtschaftsarchitektur - Das politische und wirtschaftliche Angebot Rußlands in der historischen Rede Präsident Putins vor dem Deutschen Bundestag im Berliner Reichstagsgebäude wurde von der deutschen und europäischen Politik, insbesondere der nachfolgenden Regierung von Bundeskanzlerin Merkel nicht als historische Chance begriffen und nicht entsprechend genutzt - Rußlands asiatischer Ausweg: Verlorene Chance der allmählichen Europäisierung Rußlands durch zielstrebige Fortsetzung der Annäherungspolitik seit Willy Brandt

 

6. Sowjet-Rußlands militärischer und politischer Machtverlust

Zu den prägenden historischen Erfahrungen der russischen Führungseliten und eines großen Teils der Bevölkerung in den vergangenen 25 Jahren gehören der Zerfall der Sowjetunion und das Ende und die schmerzhafte Transformation des ein dreiviertel Jahrhundert herrschenden staatssozialistischen Systems - Sowjet-Rußlands militärischer und politischer Machtverlust: Der große Rückzug nach Osten und spätere partielle Korrekturversuche – Gegenbewegung: grenzenlose Osterweiterung von EU und NATO - Bruch früherer Zusage der USA und Deutschlands gegenüber Rußland bei 2 plus 4 Verhandlungen: Keine NATO-Osterweiterung über das Gebiet der ehemaligen DDR hinaus - NATO- und US-Militärmanöver an Rußlands Grenzen (am Grenzfluß Narva und im Schwarzen Meer) sowie Waffenlieferungen ins Baltikum und die Ukraine als friedensgefährdende Provokation - Notwendigkeit der Ausräumung begründeter und unbegründeter Befürchtungen der durch Jahrzehnte lange russische Hegemonie traumatisierten osteuropäischen Länder – In Anbetracht dieser Rücknahme des sowjetrussischen Einflußbereichs um 2000 Km nach Osten ist die ständig wiederholte Behauptung vom „russischen Expansionsdrang nach Westen“ nicht haltbar. – Die Akzeptanz dieses Macht- und Einflußverlusts Rußlands ist ein schwieriger, innenpolitisch noch nicht bewältigter, unumgänglicher Lernprozeß.

 

7. Zur Lage der Krim und des Donbass

Die Rechtslage der Krim, das russische Vorgehen vor, während und nach der Abspaltung und Neuzuordnung der Krim ist Gegenstand politischer und rechtswissenschaftlicher Kontroversen. Der komplexe Sachverhalt und die zeitweise bürgerkriegsähnlichen Zustände in Kiew, auf der Krim und im Donbass erlauben unterschiedliche rechtliche Beurteilungen.

Das russische Vorgehen ist keinesfalls eindeutig und unheilbar rechtswidrig und erst recht nicht – wie von der deutschen Bundeskanzlerin - als „verbrecherisch“ zu charakterisieren - Sezession und Eingliederung in die Russische Föderation - Neuzuordnung ist ungeachtet russischer Rechtsverstöße im Verfahren durch Mehrheitswillensäußerung legitimiert und international anerkennungsfähig - unterschiedliche Rechtslage von Krim und Donbass – Präzedenzfall Kosovo: Der Zerfall des Jugoslawischen Bundesstaates mit der internationalen Anerkennung der aus schrittweiser Sezession hervorgegangenen sieben Neustaaten, insbesondere der Republik Kosovo – ähnlich zuvor die Sezession der Republik Estland bei Auflösung des Sowjetischen Bundesstaates – bieten entgegen anderslautenden Behauptungen sehr wohl Präzedenzfälle späterer internationaler Anerkennung, obwohl zum Zeitpunkt der Abspaltung und auch bei der späteren Aufnahme der Krim in die Russische Föderation nicht alle rechtlichen Voraussetzungen vorlagen - Regionalisierung und Föderalisierung der Ukraine durch neue, international garantierte Verfassung mit Autonomiestatus des Donbass als Ausweg - die Majdan-Revolte als (bis heute nicht vollständig aufgearbeiteter) Beginn einer Bürgerkriegsentwicklung in einem Teil der Ukraine mit erheblichen, von westlicher Seite gesteuerten, interventionistischen (Entmachtung und anschließende Verjagung des gewählten Staatspräsidenten Janukovitsch) und rechtsnationalen (Kult um den ukrainischen Nazi-Kollaborateur Stjepan Bandera in Kiew, Aufnahme rechtsnationaler Freischärler-Verbände in die Ukrainische Armee) Einflüssen – dem stehen ebenfalls bürgerkriegsähnliche, von russischer Seite unterstützte Sezessionsbewegungen in der Ostukraine gegenüber.

 

8. Fragwürdige westliche Sanktions- und Isolationspolitik gegenüber Rußland

Die Rechtsgrundlagen der vonseiten der USA, der EU und Deutschlands verhängten und praktizierten Sanktionen und die Rechtfertigung ihrer vielfältigen Schadensfolgen sind zweifelhaft - Westliche Sanktionspolitik gegen Rußland: ohne politische Legitimation und auf fragwürdiger Rechtsgrundlage - ohne realistische Ausstiegsstrategie mit wachsenden wirtschaftlichen Schadensfolgen insbesondere für Deutschland - Strategie für einen schnellen Ausstieg aus der Sanktionspolitik notwendig – Die Fortsetzung der Sanktions- und Isolationspolitik (Beispiel: Nichteinladung des Russischen Präsidenten zur Teilnahme am „G - 8 (jetzt G -7) -Treffen auf Schloß Elmau) bewirkt eine kontraproduktive politische Selbstfesselung der EU und Deutschlands. Die negative Eigendynamik dieser Politik erschwert ein Konfliktmanagement der kleinen Schritte und ist nicht zielführend.

 

9. Das dreifache Dilemma: Rußlands, der Ukraine und der EU

Rußland befindet sich als postsozialistisches Transformationsland mit einer ein dreiviertel Jahrhundert langen und damit der längsten staatssozialistischen Geschichte aller osteuropäischen Länder gegenüber Europa und der EU in einem doppelten Dilemma - Rußlands Dilemma, das der Ukraine und das der EU - Ukraine-Assoziierung als Teil grenzenloser Osterweiterungspolitik der EU sprengt geltendes EU-Haushaltsrecht und politisches Mandat im Rahmen des EU-Vertragsrechts – Entwicklung rechtlicher Infrastruktur und Finanzierungsbedarf einer auf dem Gemeinsamen EU-Markt "wettbewerbsfähigen" Ukraine gehen mit einem (nach realistischer ukrainischer Schätzung) dreistelligen Milliarden Euro-Finanzbedarf weit über die Finanzierungsmöglichkeiten und die politische Integrationskraft der gegenwärtigen EU im geltenden EU-Haushalt in diesem und im nächsten Jahrzehnt hinaus ("Griechenland-Rettung"? Euro-Stabilisierung? Großbritannien-Frage? EU-Integrationsgegner im EU-Parlament?) – Die gegenwärtige Ukraine-Politik der EU ist daher für diese existenzgefährdend - Rußlands wirtschaftliche Isolierung und dessen dadurch erzwungene wirtschaftliche und technologische Hinwendung zu China ist ein unabsehbarer Verlust für Deutschland und Europa.

 

10. Konfliktverschärfung durch Assoziierungsabkommen

Verfahren und Abschluß des EU-Ukraine- Assoziierungsabkommens haben den latenten Konflikt zwischen einer sich immer weiter nach Osten erweiternden EU und Rußland massiv verstärkt - Konfliktverschärfung durch Assoziierungsabkommen unter Ausschluß Rußlands - Nichtbeachtung aller „paneuropäischen“ Initiativen Rußlands - Vorschnelle und bedingungslose Ratifikation des Assoziierungsvertrags EU durch den Deutschen Bundestag 2015: ein weiterer strategischer Fehler – dieses Verfahren erschwert die weitere deutsch-französische und europäische Friedensvermittlung zwischen Ukraine und Rußland und, wie sich zunehmend zeigt, die mäßigende Einwirkung der EU auf die Ukrainische Regierung - Ergänzende Verhandlungen mit Rußland notwendig mit dem Ziel, die EU-Annäherung der Ukraine für Russland akzeptabel und mit russisch-ukrainischem Wirtschaftsaustausch vereinbar zu machen - Weder die EU-Kommission noch die deutsche Bundesregierung haben hierfür realistische, für Rußland attraktive Konzepte entwickelt und angeboten 

 

11. Krieg in den Köpfen – politische Wechselwirkungen nicht aufgearbeitete historischer Traumata

Jeder Krieg, auch der Ukraine-Krieg, ist immer auch ein Krieg in den Köpfen. Er findet statt in wechselseitiger Diskriminierung durch neue ukrainische und russische Gesetzgebung (Beschränkung von Äußerungs- und Pressefreiheit) und Verwaltungsmaßnahmen (Eingriffe in oder Einstellung von Energieversorgung und Sozialleistungen), aber auch in einseitiger russischer, ukrainischer, europäischer, insbesondere auch deutscher Presseberichterstattung bis hin zu neuer russischer und ukrainischer Kriegspropaganda - Krieg in den Köpfen - russisches Trauma aber auch Trauma der osteuropäischen Nachbarstaaten als politischer Faktor - nicht aufgearbeitete deutsche (Nationalsozialismus und Angriffskrieg gegen die Sowjetunion) und russische (Stalinismus, Okkupation und Hegemonie in Osteuropa) Vergangenheit und die besondere deutsche Verantwortung zur Friedenspolitik – verdeckte und offene antirussische Tendenzen in der deutschen Tagespresse - politisch unkalkulierbare und wirtschaftlich unbegründbare Hoffnungen auf eine Verbesserung der Konfliktlage in einer "Nach-Putin-Ära" - Friedensgefährdende Kriegsrhetorik der Ukrainischen Regierung (Ministerpräsident Jazenjuk in Berlin) und der Russischen Regierung und der von ihr gesteuerten Medien in Rußland und der Ostukraine – „Zauberlehrlingseffekt“ der Putin´schen Politik: wachsende neo-nationalistische, militaristische und antiwestliche Tendenzen in russischen Medien und der öffentlichen Meinung

 

12. Russische Unterlegenheit

Die Russische, genauer: Rußländische Föderation ist das größte Land der Erde. Ihre Größe, geografische, historische und kulturelle Vielfalt und ihre großen Entwicklungsunterschiede sind gleichzeitig ihre Schwäche - Russische Unterlegenheit trotz Rohstoffreichtums - US-Verteidigungshaushalt siebenmal so groß wie der Rußlands, NATO-Militärhaushalte mehr als zehnmal so hoch wie der Rußlands - wirtschaftlich und technologisch ist Rußland ebenso wie die Ukraine auf dem EU-Markt in absehbarer Zeit nicht wettbewerbsfähig – die durch diese Sachverhalte verstärkten traumatischen Erfahrungen der russländischen Bevölkerung und ihrer Regierung

 

13. "Europäische Werte" und ihre Grenzen in der globalen Interessenpolitik

Der Primat des Rechts und seiner Werte gegenüber politischer und wirtschaftlicher Macht ist innerhalb eines Rechtsstaats mit den Zwangsmitteln demokratisch kontrollierter Staatgewalt durch Polizei und Justiz durchsetzbar. Dies gilt – mit Einschränkungen – auch für den „Europäischen Rechtsraum“, insbesondere innerhalb der EU. Im fragmentarischen internationalen (Rechts)Raum gilt dies nicht in vergleichbarem Maße. Hier finden Rechtsgrundsätze und Rechtsdurchsetzung ungeachtet ihrer universellen Geltungsansprüche (UN-Charta, Menschenrechts-Charta und internationale Konventionen) immer wieder ihre Grenze an Wirtschaftsinteressen und Machtansprüchen der souveränen Staaten, insbesondere der Großmächte. Dies wird sich auch in absehbarer Zeit nicht ändern. Der Ukraine-Konflikt ist nur ein Beispiel unter vielen für diesen Sachverhalt.

Die Europäische Union ist (noch und auf absehbare Zeit) kein souveräner Staat und erst recht keine Großmacht, sondern ein supranationaler Staatenverbund. Ob ihr der weitere Weg in Richtung auf einen Bundesstaat gelingt, ist offen. Sie sprengt daher ihren Rahmen als Friedens- durch Wirtschaftsunion, wenn und soweit sie – wie im Ukraine-Konflikt – an geopolitischen Auseinandersetzungen um globale Wirtschafts- und militärische Machtinteressen teilnimmt. - "Europäische Werte" und ihre Grenzen in der globalen Interessenpolitik - weltweite Interessenpolitik jenseits normativer Wertepolitik - Verletzung europäischer und universeller Rechtswerte als ständiger Bestandteil US-amerikanischer Interessenpolitik, Beispiele - Rußlands langer Weg in den Rechtsstaat und die Rußlandpolitik Deutschlands und der EU - Demokratie- und Rechtsstaatsdefizite Rußlands - die Demokratisierung Rußlands nach EU-Maßstäben: keine politische Aufgabe der Bundesrepublik Deutschland und der EU

 

14. Wandel durch (Wieder)Annäherung

Wandel durch (Wieder)Annäherung - Elemente einer erneuerten deutschen und europäischen Rußlandpolitik - Schritte zur Konfliktbeilegung - Auswege aus der Krise: Acht Schritte einer erneuerten deutschen und europäischen Rußlandpolitik.

 

15. Ukraine-Konflikt - Prüfstein für Ostpolitik als Friedenspolitik

Der Ukraine-Konflikt ist ist ein Prüfstein für eine deutsche und europäische Ost- und Rußlandpolitik als Friedenspolitik über die EU hinaus unter Einschluß der osteuropäischen Nachbarstaaten und Rußlands. Angesichts der bisherigen konträren Positionen der unmittelbaren und mittelbaren Konfliktparteien ist auf beiden Seiten eine Politikänderung notwendig, um in einem langdauernden Verhandlungsprozeß Ansätze für einen angemessenen sicherheits- und wirtschaftspolitischen Interessenausgleich zu entwickeln.

 

Titelblatt des Buchs "Ukraine-Konflikt und Rußlandpolitik"
Herwig Roggemann

Ukraine-Konflikt und Rußlandpolitik
Ein Diskussionsbeitrag zum Ukraine-Konflikt
für eine neue deutsche und europäische Rußlandpolitik
Berliner Wissenschafts-Verlag
2015, 106 S., kart., 22,00 €, ISBN 978-3-8305-3554-6

Der Verfasser: Dr. iur. Dr. h. c., Univ.-Prof. a. D. am Fachbereich Rechtswissenschaft und am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin · Wiss. Koordinator des Interuniversitären Zentrums Berlin/Split/FrankfurtO/Paris I ∙ Garystr. 55 · 14109 Berlin, info@berliner-forum.eu - herwig.roggemann@gmx.de

www.intercentar.de ∙ www.galerie-wannsee-verlag.de ∙ www.berliner-forum.eu
 

Der Ukraine-Krieg – Ursachen und Ausweg
Herwig Roggemann

„Wie stark ist Russland?“ fragt Christoph von Marschall im Tagesspiegel v. 15. 2. 2015.In vielen Punkten ist der Analyse von Marschalls zuzustimmen. Russland ist „dem Westen“, d. h. der NATO, der EU und den USA, militärisch, wirtschaftlich und was die Attraktivität seines politischen Systems anlangt, unterlegen. Die Militärausgaben Russlands machen nur einen kleinen Bruchteil der Militärausgaben der NATO-Staaten aus. Wirtschaftlich ist Russland trotz Rohstoffreichtums auf dem Gemeinsamen Europäischen Markt ebenso wenig wettbewerbsfähig wie seine Anrainerstaaten Ukraine, Weißrussland und Moldawien. „Putin griff zur Gewalt, als seine frühere Politik scheiterte“. Auch das trifft zu. Die Frage, warum die russische Regierung ihre Politik scheitern sah, wird allerdings nicht gestellt.

Mit der Auflösung der Sowjetunion 1991 verlagerte sich der Macht- und Einflußbereich Sowjetrußlands 2000 Km nach Osten. Mit der Osterweiterung von EU und NATO dehnte sich deren Macht- und Einflußbereich schrittweise immer weiter nach Osten aus. Die NATO-Osterweiterung erfolgte entgegen ausdrücklichen Zusagen von westlicher Seite. Daß dies mündlich geschah, ändert nichts an ihrer Rechtswirksamkeit. Den vorerst letzten Schritt der westlichen Paktsysteme nach Osten bis an die russische Grenze erzwang die gewaltsame Majdan-Revolte. Es folgten 2014 die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens EU-Ukraine und die Aufkündigung des Neutralitätsstatus der Ukraine in Vorbereitung späteren NATO-Beitritts. Dadurch sieht Rußland seine Sicherheit bedroht. Die Integration der Ukraine in den Europäischen Markt ohne Rußland zerschneidet den russisch-ukrainischen Wirtschaftsraum. Die von Rußland mehrfach vorgeschlagene Einbeziehung in eine gemeinsame transeuropäische Sicherheitsarchitektur und eine EU-übergreifende Wirtschaftszone haben EU und NATO unterlassen. Auf die große Rede von Präsident Putin 2001 vor dem Deutschen Bundestag haben Bundesregierung und EU bis heute keine konstruktive Antwort gegeben. Einer der besten Kenner des Ukraine-Problems, Winfried Schneider-Deters, faßt das in dem Satz zusammen: Die EU „hat alle „paneuropäischen“ Initiativen des Kreml unbeachtet gelassen“. Das ist die eigentliche Konfliktursache.

Den letzten Anstoß zur Konflikteskalation gaben die bewaffnete Majdan-Revolte und der damit gewaltsam herbeigeführte antirussische Regierungswechsel. Von einem „friedlichen Ringen“ kann dabei nicht gesprochen werden. Der Versuch der Kiewer Regierung, den Osten der Ukraine gegen den Willen vieler seiner Bewohner auf diesem „Weg nach Westen“ politisch einfach „mitzunehmen“, mußte scheitern. Die große Mehrheit der Krimbewohner sind Russen. Der Anteil der Ukrainer macht nur ein Viertel aus. Im Industrierevier des Donbass ist der Anteil der Ukrainer noch viel kleiner. Als die Kiewer Regierung das Recht der russischen Mehrheit in diesen Gebieten auf die russische Sprache und zugleich deren personelle, kulturelle und wirtschaftliche Rußland-Orientierung mit dem Politikwechsel in Frage stellte, regte sich Widerstand. Separatistische Forderungen wurden laut und von Rußland propagandistisch, schließlich auch paramilitärisch und militärisch unterstützt. Bis dahin hatte die russische Führung zu manifesten Aktivitäten oder gar militärischen Interventionen mit dem unmittelbaren Ziel der Abspaltung der Krim und des Donbass keinen Anlaß gesehen. Beides stand nicht auf Putins aktueller Agenda.

Die Frage nach dem „Punkt, der Putin zur Umkehr bringt“, ist bereits beantwortet. Und zwar von einem der besten praxisnahen Rußlandkenner. Im Gespräch mit Anne Will nannte der Vorsitzende des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, Eckard Cordes, drei Punkte: Verzicht der Ukraine auf Nato-Mitgliedschaft, Einbeziehung Rußlands in eine transeuropäische Wirtschaftszone, gleichberechtigte Verhandlungen darüber mit Rußland auf „Augenhöhe“. Damit und mit der rechtzeitigen Einbeziehung Rußlands in die Verhandlungen über die EU-Assoziierung der Ukraine, statt dieses Abkommen als vermeintlich „bilaterale Angelegenheit“ ohne Rußland und gegen seine Interessen durchsetzen zu wollen, wäre es nie zum Ukraine-Krieg gekommen. Er ist das Ergebnis verfehlter Rußlandpolitik der EU und der Bundesregierung.

Jetzt wird der Friede für alle Konfliktbeteiligten teurer. Unabdingbare und aus russischer Sicht wohl nur begrenzt verhandelbare Voraussetzungen sind, von der Regulierung der Kriegsschäden abgesehen, eine ukrainische Verfassungsreform mit regionaler Neuordnung und Autonomiestatus des Donbass sowie – früher oder später - Anerkennung des status quo der Krim als Teil der Russischen Föderation mit international garantierten Minderheiten- und Transitrechten der ukrainischen Krimbevölkerung.

Der aktuelle wirtschaftliche Schade durch den Ukrainekrieg und infolge fragwürdiger Sanktionspolitik ist nicht nur für Rußland und die Ukraine sondern auch für Deutschland mit rund 10 Mrd. € schon jetzt außerordentlich hoch. Die zu erwartenden Spätfolgen werden ihn weiter vergrößern. Neben humanitären und sicherheitspolitischen begrenzen daher auch wirtschaftliche Gründe den westlichen Verhandlungsspielraum und machen ein Ergebnis dringlich.

 

Das Gedenkjahr 2015 gibt der deutschen Vermittlerrolle im ukrainisch-russischen Friedensprozeß zusätzliches historisches Gewicht. Denn der deutsche Angriffskrieg auf die Sowjetunion, der vor 70 Jahren in Berlin zu Ende ging, war das größte, jemals einem Land zugefügte Kriegsverbrechen und kostete mehr als 25 Mio Menschen, zumeist Russen und Ukrainer, das Leben. Keine russische Familie einschließlich der des Staatspräsidenten Putin, in der die traumatische Erinnerung daran nicht noch lebendig wäre. Doch während Holocaust-Gedenken, deutsch-französische und deutsch-polnische Versöhnung zu Bestandteilen deutscher Erinnerungskultur geworden sind und zugleich als politische Zukunftsaufgaben verstanden werden, gilt das für die ebenso wichtige deutsch-russische Versöhnung nicht in gleichem Maße. Auch hier liegt ein Schlüssel zur fälligen Erneuerung europäischer Friedenspolitik – mit Russland.

(Der kursive Teil dieses Textes erschien als Leserbrief im Tagesspiegel v. 22. 2. 2015)

 

Zum Thema: Ukraine-Konflikt und Rußlandpolitik fanden folgende Veranstaltungen statt:

- 5. 11. 2015: Galerie-Wannsee-Verlag (siehe: www.galerie-wannsee-verlag.de),
- 7. 11. 2015: Rotary-Club Berlin-Kurfürstendamm (Kempinski),
- 8. 4. 2016: 38. Pankower Waisenhausgespräch (Teilnehmer: Prof. Dr. Dr. h. c. Herwig Roggemann, Freie Universität Berlin Andreas Metz, Referatsleiter im Ostausschuß der Deutschen Wirtschaft, Moderator: Prof. Dr. Peter-Alexis Albrecht, Goethe-Universität Frankfurt/M),
- 18. 5. 2016: 39. Pankower Waisenhausgespräch (Teilnehmer: Prof. Dr. Dr. h. c. Herwig Roggemann, Prof. Dr. Burkhard Breig, Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin, Daniil Bisslinger, Attache der Russischen Botschaft, Berlin. Moderator: Prof. Dr. Peter-Alexis Albrecht, Goethe-Universität Frankfurt/M)Neuer Text
Share by: